„Matthäus Passion 2727“, Kamea Dance Company am Deutschen Theater München

Leidenschaft und Menschlichkeit

Die israelische Kamea Dance Company ist erstmals zu Gast in München

Nach dem Auftakt im Deutschen Theater mit „Carmina Burana“ darf man nun gespannt auf Tamir Ginz’ originäre und versöhnlich in die Zukunft weisende Interpretation von „Matthäus Passion 2727“ sein – nach und zu Musik von Johann Sebastian Bach.

München, 01/11/2024

Seit 20 Jahren leitet Tamir Ginz seine eigene Tanzkompanie in Be’er Scheva. Tourneen führten das Ensemble aus Israel immer wieder auch nach Deutschland. Hier, erzählt Ginz im Interview, fühle er sich nach vielen Erfolgen mit seinen Werken sehr gut aufgehoben. Am Münchner Flughafen war er schon oft. In die Stadt selbst kam er vor diesem Sommer allerdings nie. Bevorzugt in Wuppertal (Partnerstadt von Be’er Scheva seit 1977), Leverkusen, Neuss, Hannover, Stuttgart und Ludwigshafen oder Meiningen hatte man Station gemacht. Bis vor einem Jahr aufgrund der Terrorangriffe der Hamas kurzfristig alle Auftritte abgesagt werden mussten, da die Großstadt Be’er Scheva – Heimatort der 24-köpfigen Kamea Dance Company – nur rund 50 Kilometer östlich vom Gazastreifen entfernt liegt.

Dass die Truppe nun tatsächlich mit „Carmina Burana“ und „Matthäus-Passion 2727“ zum ersten Mal zwei ihrer Großprojekte in München zeigt, hat mehrere Gründe. Einer davon mag zweifelsohne die seit 2021 bestehende Partnerschaft zwischen den beiden Städten sein, wobei Be’er Sheva Münchens achte und zugleich jüngste Partnerstadt ist. Bei einem Delegationsbesuch der Landeshauptstadt im Mai 2023, an dem auch Vertreter des Münchner Kulturreferats beteiligt waren, ergab sich im Zuge einer Museumsbesichtigung zufällig ein persönlicher Kontakt. Man verabredete sich daraufhin zu einer Stippvisite in den kompanieeigenen Studios. Einblicke in die Arbeit des Kompanieleiters und seiner erfrischend jungen Gruppe entfachten Begeisterung auf beiden Seiten und so wurden schon vor Ort konkrete Pläne für die aktuelle Gastspieleinladung des Ensembles ins Deutsche Theater geschmiedet. Auch über eine Vernetzung mit der Stadtgesellschaft und der Münchner Tanzszene dachte man sofort nach und konnte die Gäste aus Israel schnell mit dem künstlerischen Leitungsteam der Iwanson International School of Contemporary Dance verlinken – für einen einwöchigen Trainingsaufenthalt mit Master Classes und Workshops im Vorfeld der Auftritte: eine Win-win-Situationen par excellence auch für die Studierenden von Iwanson und die freie Szene Münchens unter dem Dach der Initiative Bad Lemons.

Für fünf weitere Vorstellungen seiner „Matthäus-Passion 2727“ ist Tamir Ginz mit seinen Tänzerinnen und Tänzern zudem im April 2025 nach Fürth in das umtriebige Stadttheater dort eingeladen. Choreografen aus dem Ausland wird in Fürth bereits seit langem Platz für Gastvorstellungen eingeräumt. Vergleichbar dem viel größeren Deutschen Theater, wo unter der neuen Leitung von Thomas Linsmayer zunehmend wieder mehr Tanzproduktionen zum festen Programmbestandteil werden sollen – neben Musicals und Shows als feste Repertoiresäule. Beim Münchner Publikum scheint das bislang gut anzukommen.

 

„Carmina Burana“ 

Tamir Ginz: „Das Stück brachte uns den internationalen Durchbruch und größten Erfolg weltweit.“

 

Rot und Schwarz sind lange die dominierenden Kostümfarben in Tamir Ginz’ „Carmina Burana“. Sinnlichkeit mag sich hier ebenso widerspiegeln wie kirchliche Amtsträger gemeint sein könnten. Bis zum Ende wird jedoch nicht wirklich klar, ob und inwieweit Ginz als Choreograf eine Lesart in die eine oder andere Richtung tatsächlich auch beabsichtigt hat. Der Tänzer Nitay Halevi trägt in seinem Solo zu Orffs „Der gebratene Schwan“ zum schwarzen Mantel mit Rockschößen jedenfalls rote Satinhandschuhe, bis ihm – trotz mancher Kussumarmung – fast rüde die Kleidung bei seinen insistierenden Versuchen, Liebe innerhalb einer Männergruppe zu finden, vom Körper gerissen wird.

Widersprüchlichkeit, so scheint es, macht Ginz gern zum situativen Ansatzpunkt für seine auf der Bühne tänzerisch abstrahierten Gefühlszustände. Frei assoziieren darf das Publikum schon gleich zu Beginn: Da verteilt eine emotional an die Figur der Carmen erinnernde Tänzerin (Orffs Fortuna im roten Kleid mit langer Schleppe?) grüne Äpfel als herzhaftes Symbol zum genüsslichen Reinbeißen. Diese szenische Idee wird anschließend in den verschiedensten Spielarten zwischen den Geschlechtern wiederholt aufgegriffen.

Ginz’ freimütige Interpretation von Carl Orffs szenischem Oratorium, das inhaltlich auf eine mittelalterliche Sammlung von Liedern und Gedichten zurückgeht, die von Mönchen einst als eine Art Befreiungsakt gegen die strenge klösterliche Regelkonformität niedergeschrieben wurde, entwickelt sich nach und nach zu einem Ritual mit Kreisschluss. Seine 14 Tänzerinnen und Tänzer lässt der israelische Choreograf – tanztechnisch geprägt sowohl von Martha Graham als auch von Ohad Naharin, in dessen Batsheva Dance Company er früher Ensemblemitglied war – ein Fest der Liebe, Jugend und Lebensfreude feiern. Aufgeladen ist sein Stück aber vor allem mit unmissverständlich starken erotischen Momenten.

So richtig zügellos von der Leine will er die Interpreten seiner Kamea Dance Company dennoch nicht lassen, selbst wenn in der sogenannten „Schenkenszene“ (In taberna) massig Weintrauben quer über die Bühne und durch die Luft in die begehrend-aufgerissene Münder fliegen, Hüllen fallen und Paare sich stetig intimer in ihren Duetten begegnen. Immer wieder bremsen wohlgeordnete Diagonalen, fein im Raum arrangierte Reihen von Frauen hier und Männern dort das ungestüme Chaos aus.

„Kamea“ bedeutet übersetzt „Glücksbringer“ – und genau das will Tamir Ginz mit seiner im israelischen Be’er Scheva beheimateten Truppe wie mit seinen Tanzproduktionen offenbar sein. Dazu passt, dass er Eros, Provokation und Kontrolle durch Harmonie in stillen Augenblicken ohne Orffs dynamisch vereinnahmende Musik und passagenweise sogar fast wie in einem Ballettdivertissement mit dem folkloristischen Touch eines Mauro Bigonzetti brav Hand in Hand weg aus der Entfesselung und zurück in die Ruhe eines kollektiven Sich-Neubesinnens führt. Das Premierenpublikum quittierte die darstellerische Leistung der aus Münchens jüngster Partnerstadt erstmals hier gastierenden Protagonisten nach 70 Minuten mit heftigem Applaus.

 

„Matthäus Passion 2727“

Tamir Ginz: „Diese Arbeit – ein Auftragswerk der Arzneimittelfirma Bayer in Leverkusen – richtet sich ausdrücklich und insbesondere an ein Publikum in Deutschland. Es wurde gemeinsam mit deutschen Projektpartnern kreiert und ich würde sogar sagen ‚Matthäus Passion 2727‘ ist mein Meisterwerk.“

 

Mit „Matthäus Passion 2727“ präsentiert das Ensemble nun noch ein weiteres ambitioniertes Tanzprojekt – diesmal mit thematischem Schwerpunkt auf Vergebung und dem Glauben an das Gute im Menschen. Drei Jahre hat Ginz dafür das Neue Testament studiert und sich für seinen choreografischen Katalog eindrucksvoller getanzter Bilder durch die damals im Israel Museum in Jerusalem gezeigte Ausstellung „Behold The Man: Jesus in Israeli Art“ inspirieren lassen. Das in der christlichen Tradition wurzelnde Werk anzupacken und auf 75 Minuten zu verdichten, war aber nicht seine Idee. Er – selbst Sohn eines Überlebenden des KZ Mauthausen – verdankt sie Arno Gerlach von der Kantorei Barmen-Gemarke. Dessen Vater hatte Züge gefahren, mit denen Jüdinnen und Juden in die Konzentrationslager deportiert wurden. In Wuppertal stellte Gerlach den Kontakt zu Werner Erhardt und dessen Barockorchester „l’arte del mondo“ her und initiierte damit die Kooperation im Sinne einer Religionen und Kulturen verschränkenden Versöhnung.

Uraufgeführt wurde Ginz’ „Matthäus Passion 2727“ schon 2017 – zehn Jahre nach seiner „Carmina Burana“. Akustisch erlebt man dabei eine revolutionäre Besonderheit: „Wir beginnen musikalisch am Ende von Bachs Komposition und arbeiten uns von dort schwerpunktmäßig über die Arien zum Anfang vor.“ Dass hierbei die Leidensgeschichte Christi nicht linear, sondern als Ensemblestück frei von fest zugeschriebenen Rollenprofilen aus einem bewusst anderen Blickwinkel erzählt wird, versteht sich von selbst. Ginz verspricht den Zuschauern eine Geschichte über die Freundschaft und Liebe zwischen Jesus und Judas und in der Essenz zum eigens produzierten Soundtrack aus Bachs Musik einmal mehr pure Leidenschaft für die Menschlichkeit. Die interreligiöse und interkulturelle Produktion will eine Brücke zwischen den Nationen und Religionen sein.

Bachs „Matthäus-Passion“ zählt zu den bedeutendsten Vertonungen der biblischen Leidensgeschichte Christi in der abendländischen Musik- und Kulturgeschichte. Sie ist ein Kulturschatz völkerverbindender Dimension. Ginz’ „Matthäus-Passion-2727“ wiederum wird inhaltlich von der Frage vorangetrieben, wo dieses Werk wohl 1000 Jahre nach seiner Uraufführung 1727 stehen und was zwischenmenschlich alles auf dem Weg von heute bis dorthin passieren könnte. Fundament von Ginz’ Choreografie sind Gefühle und Lebenserfahrungen sowie die Konfrontation mit Leid und Neid, Trauer und Verrat. Ob und wie ihm das gelingt, wird vermutlich jeder für sich selbst entscheiden müssen. Fakt ist, dass die Kamea Dance Company aus dem Süden Israels als eine wichtige „Stimme“ in der israelischen Tanzszene gilt. 

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