Gestohlene Schritte
Sebastian Weber zeigt mit „The Long Run“ als Premiere im Lofft Leipzig einen veritablen Steptanz-Essay
Die Staatsoperette Dresden zeigt „Die Sieben Todsünden“ und als Antwort „100 Leidenschaften“, eine Uraufführung von Steppmeister Sebastian Weber.
Brecht gegen Weber, Weill gegen Kosselleck. Das wäre eine Möglichkeit, auf diesen Doppelabend an der Staatsoperette Dresden zu sehen. Gegeben wurde nicht nur das altehrwürdig-satirische „Die Sieben Todsünden“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill (in der Choreografie von Jörn-Felix Alt), sondern auch die Uraufführung von „100 Leidenschaften“, die Komponist Konrad Kosselleck zusammen mit dem Choreografen Sebastian Weber als Antwort auf die Bühne gebracht hat. Also ein Duell?
Die Antwort: „100 Leidenschaften“ von Kosselleck und Weber
Die Sebastian Weber Dance Company ist bekannt für ihren kompromisslosen zeitgenössischen Stepptanz, der hier durch zeitgenössische Tanzelemente verstärkt wird. Tatsächlich fehlten einige der Stammbelegschaft, aber dafür gab es einige frische Gesichter zu sehen, die Kosselecks Musik in einen veritablen Stepp-Abend verwandelten. Kosselleck lässt sich musikalisch nicht auf ein Genre festnageln, sondern seine 100 Leidenschaften springen wild durch alles, was die Musik zu bieten hat. Mal poppig, mal dem Musical entlehnt oder auch ganz jazzig, entspannt er ein musikalisches Panakustikum, welches das Orchester der Staatsoperette unter der Leitung von Peter Christian Feigel (in beiden Teilen) souverän abliefert. Dazu steppen die 13 Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, gerne in ganz großen Bildern. Nicht alle sind dabei klassische Stepptänzer*innen, auch vier Performerinnen aus dem zeitgenössischen Tanz mischen sich unter die Truppe, was hier und da zu illustren Exkursen und tänzerischen Dialogen einlädt. Im Gegensatz zu vielen anderen Produktionen steht Weber hier nicht selbst mit auf der Bühne und kann sich in dieser bisher größten Arbeit der Company ganz auf die Bühnenvorgänge konzentrieren. Und auch da denkt er groß.
Über weite Strecken lässt er alle Tänzer*innen zugleich auf der Bühne, baut mit Ihnen große simultane Formationen und etabliert nebenbei mit dem rhythmischen Steppen eine zweite Klangebene zu den Tönen des Orchesters. Die 100 titelgebenden Leidenschaften, hier sind sie meist alle und gleichzeitig zu erleben, voller Energie und meist nach vorne. Hier hätte eine stärkere dramaturgische Ordnung dem Abend vielleicht gut getan, wobei das Gesamtbild immer noch überzeugt. Denn Weber kennt seine Truppe und weiß, wie er mit ordentlichen Druck nach vorne sein Publikum zu begeistern weiß. Angesichts der Größe der Produktion geht er da in der Staatsoperette auch kein Risiko ein.
Schon der Beginn ist stark, wenn Vilma Kananen erst mit einer Chipstüte am Rand Platz nimmt, um sich dann in die Mitte der Bühne zu setzen, auf der in viel Nebel und blauem Licht die anderen Gestalten schon warten und beginnen, auf der leeren Bühne, um sie herumzuwirbeln. Immer wieder wechseln sie im Laufe des Abends in Windeseile zwischen Steppschuhen und Barfuß-Elementen, zwei verschiedene Tonlagen desselben Tanzes. Später kommt als einziges Bühnenelement eine fahrbare Plattform hinzu, die mal als treibende Scholle mal als kleine Bühne genutzt wird. Am Ende dann wagen sie sich auf den kleinen Steg zwischen Orchestergraben und Publikum und spätestens da springen die 100 Leidenschaften auch alle auf die Zuschauenden über.
Die Frage: „Die sieben Todsünden“ von Brecht und Weill
Zuvor hatte Jörn-Felix Alt mit dem Ballett der Staatsoper und Sophie Berner als Anna I und Jasmin Eberl als Anna II die sieben Todsünden nach Brecht/Weill auf die Bühne gebracht. Die beiden Annas sind dabei im Grunde Alter Egos, die eine sündigt um der anderen ihren Traum zu erfüllen, ein Thema, das Brecht auch in „Der gute Mensch von Sezuan“ wieder aufgreift. Der Traum ist dabei überschaubar: ein kleines Haus in Louisana für die kleine Familie samt Eltern, die in grotesken Zwischenspielen immer wieder den Fortschritt des Projekts abfragen. Die beiden Annas (die eigentlich eine sind) werfen sich in den Moloch der Städte, um Geld zu verdienen.
Alexandre Corazzola hat diese urbanen Labyrinthe, diese Wege durch den Sündenpfuhl als mobile dreigeschossige Stahlgerüste gebaut, auf denen die Tänzer*innen in immer neuen Formationen den Aufstieg der Anna feiern, wobei Berner vor allem singend und Eberl eben tanzend voll überzeugen. Alt setzt auf revueartige Bilder, inszeniert genau wie Weber die großen Gruppen, in denen die beiden Annas sich zurechtfinden müssen. Mal schlängeln sie sich eng an lauter Handyzombies vorbei über die Gerüste, doch schon bald dirigieren sie – und hier vor allem Anna I – vor allem die Herren nach ihrem Gusto. Hier treffen sich geradezu das Cabaret der 1920er mit den Zumutungen der 2020er, auch wenn freilich den Brechtschen Texten von 1933 eine gewisse Musealität anhaftet. Alt setzt auf klare Bilder und Szenarien, in denen sich die Gruppen mit ihren bisweilen absurd toupierten Haaren entfalten oder zur Glitzerschlacht einladen. Aus dem biederen Faltenrock werden da bald offenherzige moderne Kostüme. Die Inszenierung bleibt so der Geschichte treu und übersetzt sie mit viel Power in zeitgemäße Bilder aus den Hinterzimmern der Unterhaltungsindustrie.
Webers Antwort auf diese perfekte Musical-Revue wirkt wie ein Rückgriff auf die Urkraft des Theaters, des Körpers und des Tanzes. Ihr Publikum finden beide, das sich hier in Dresden an einer recht ungewöhnlichen Double Bill erfreuen kann, von denen jeder Teil auch für sich selbst funktioniert. Brecht und Weill hätten diese Dialektik sicher gemocht.
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