„Giselle“ an der Pariser Oper: Marianela Nuñez, Hugo Marchand und Ensemble

Eine Londoner Giselle in Paris

Marianela Nuñez zu Gast im Palais Garnier

Marianela Nuñez als Giselle an der Pariser Oper lässt auch den Rest des Ensembles zur Höchstform auflaufen.

Paris, 31/05/2024

Es ist wohl eine der größten Herausforderungen für eine Ballerina, an der Pariser Oper als Giselle zu gastieren. Jean Coralli und Jules Perrots Ballett „Giselle“, das 1841 in Paris uraufgeführt wurde, ist nicht nur der Höhepunkt des romantischen Ballettrepertoires, sondern auch das bekannteste Werk, das je beim Ballett der Pariser Oper uraufgeführt wurde. Seit die Ballets Russes das im Laufe des 19. Jahrhunderts aus dem Pariser Repertoire verschwundene Ballett in den Westen zurückbrachten, wurde es sehr häufig im Palais Garnier aufgeführt. Das Werk, das seit 1991 in einer Fassung von Patrice Bart gezeigt wird, ist ein Paradestück des Balletts der Pariser Oper. Die Titelrolle tanzen traditionell nur die ranghöchsten Étoiles der Kompanie, und viele große Ballerinen beenden in diesem Stück ihre Karriere. 

So gab beispielsweise Myriam Ould-Braham vor einigen Tagen ihre Abschiedsvorstellung als Giselle (siehe auch www.tanznetz.de/de/article/2022/grosse-tanzkunst-zum-saisonende). Die Pariser Regel, Ballerinen mit 42 Jahren in Rente zu schicken, scheint angesichts von Ould-Brahams meisterhafter Darbietung mehr als fragwürdig. An die Tänzerin, die sich in den letzten Jahren künstlerisch stark entwickelt hat (siehe auch www.tanznetz.de/de/article/2023/grossartiges-spaetes-rollendebuet-manon-paris), wird man sich noch lange erinnern. Für ihre gleichaltrige Kollegin Marianela Nuñez aus dem Royal Ballet scheint der Abschied von der Bühne glücklicherweise noch in einiger Ferne zu liegen. Sie entzückte als Giselle das strenge französische Publikum und die ihr nachgereisten Fans so sehr, dass sie am Ende mit einer Standing Ovation und einer im Palais Garnier in den letzten Jahren nie gesehenen Anzahl von Vorhängen gefeiert wurde.

Triumph der Gasttänzerin im Palais Garnier

Der Triumph der argentinischen Starballerina lag dabei nicht nur in ihrer absolut souveränen Technik und der unermüdlichen Energie begründet, die man aus ihren hochvirtuosen Auftritten in Balletten wie „Don Quichotte“ kennt. In „Giselle“ zeigte Nuñez eine andere Facette ihres Talents: sie erwies sich als sensible Darstellerin, die dem in Paris überaus bekannten Stück ihre ganz eigene, erfrischende Note zu verleihen wusste. Vom ersten Moment an lebte sie ihre Rolle mit der Spontaneität eines quirligen jungen Mädchens, das die Choreographie nicht zelebriert, sondern seinen inneren Impulsen folgt, wobei sie ihre Bewegungen oft stärker akzentuierte als ihre französischen Kolleginnen. So schienen die Schritte stets durch ihre Emotionen motiviert und mit Leben erfüllt. Nuñez’ Giselle strahlte nicht nur vor unbändiger Lebensfreude, sondern auch vor unschuldiger Liebe zu ihrem Albrecht Hugo Marchand, der ebenso ehrlich entflammt schien und ob des Reizes seiner Giselle vergaß, dass er eigentlich mit einer Standesgenossin vermählt ist. Daran erinnerte ihn alsbald Jérémy-Loup Quers Wildhüter Hilarion, der Albrecht in Leidenschaft und Noblesse um nichts nachstand (er wird in einigen der letzten Vorstellungen die Hauptrolle tanzen). Doch hatte Hilarion nicht damit gerechnet, dass seine Demaskierung des adeligen Verführers nicht etwa dazu führen würde, dass Giselle sich ihm zuwendet, sondern dazu, dass sie – nach einer besonders glaubhaften und berührenden Wahnsinnsszene – tot zusammenbricht.

Auch im zweiten Akt unterschied sich Nuñez’ Interpretation leicht von den in Paris üblichen Darbietungen: trotz aller überirdischen Leichtigkeit kämpfte sie mit einer Entschlossenheit um Albrechts Leben, als habe sich zwar ihr Körper von der Schwerkraft befreit, nicht aber ihr Herz von der Liebe zu Albrecht. Marchand, der zu Beginn des Aktes tieftraurig mit einem echten Lilienstrauß im Arm erschien (dessen Duft man noch jenseits des Orchestergrabens wahrnahm), wollte ebenfalls nicht einsehen, dass er für immer von Giselle getrennt werden sollte und sank – nach einer eindrucksvollen Variation und kraftvollen Serie von Entrechats six – beinahe besinnungslos auf das Grab, in das seine Geliebte mit sehnsuchtsvoll nach ihm ausgestreckten Armen verschwand.

Motivation durch neue Impulse

Es geschieht derzeit nur selten, dass in Paris Gäste eingeladen werden, und Nuñez’ großer Erfolg kann nur zu weiteren solchen Initiativen anregen – nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Pariser Tänzer, denen dadurch bewusster wird, wie anders man ein Glanzstück ihres Repertoires interpretieren kann. So zeigten sich auch die weiteren Solisten motivierter denn je. Die marmorkalte Valentine Colasante als Myrtha bildete einen reizvollen Kontrast zu Nuñez’ sich ans Leben und ihren Geliebten klammernden Waldgeist. Unter Myrthas Assistentinnen glänzte besonders Hortense Millet-Maurin als zweite Willis mit starrem Blick, fließenden Ports de Bras und sicheren Balancen. Nine Seropian und Andrea Sarri gaben ein sympathisches Bauernpaar im ersten Akt, wenn auch mit einigen kleinen technischen Unsicherheiten. 

Das Corps de Ballet zeigte sich – wie fast immer in „Giselle“, und ganz besonders im zweiten Akt – meisterhaft, und das Orchester unter der Leitung von Patrick Lange spielte Adolphe Adams Partitur, die ebenso wie die Choreographie einen Meilenstein der Ballettgeschichte darstellt, mit ungewohnter Frische. Die enthusiastische Reaktion des Publikums, das nach einer halben Stunde Standing Ovation noch nicht gehen wollte, war eine schöne Antwort auf die Frage, ob ein Ballett des 19. Jahrhunderts die Zuschauer von heute noch berühren kann.

Besuchte Vorstellung: 27.05.24

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