Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Mit „Epilog“ verabschiedet sich John Neumeier vom Hamburg Ballett
Es war so eigentlich nicht geplant. Normalerweise hätte John Neumeier im 50. Jahr seiner Ballett-Direktion in Hamburg aufhören sollen und wollen – mit der Saison 2023/24. Dann wurde sein Nachfolger Demis Volpi jedoch erst zur Spielzeit 2024/25 aus Düsseldorf frei, und Neumeier verlängerte seinen Vertrag noch einmal um ein Jahr. Zum Abschied gab es jetzt eine (vorläufig) letzte Kreation für seine Kompanie: „Epilog“ heißt sie treffenderweise, Nachwort zu einem langen Künstlerleben und zu 51 Jahren Hamburg Ballett, einzigartig in der Welt. Es wurde zum tief berührenden Vermächtnis des scheidenden Choreografen.
Zwei Teile – ein Thema
Der Abend gliedert sich in einen (fast etwas zu lang geratenen) ca. 80-minütigen ersten Teil zu Klaviermusik von Franz Schubert, berückend sensibel gespielt von David Fray (für die vierhändige Fantasie f-Moll kam noch Emmanuel Christien dazu), sowie drei Songs von Simon & Garfunkel, die für die 1970er Jahre stehen. Der zweite Teil ist gerade mal halb so lang mit einem Allegretto von Schubert und dem Zyklus „Vier letzte Lieder“ von Richard Strauss, gesungen von Asmik Grigorian, die sich ganz selbstverständlich unter das Ensemble mischt und keinerlei Diven-Allüren an den Tag legt. Einmal mehr fragt man sich, wie Neumeier es geschafft hat, diesen Shootingstar der Opernwelt aus ihren vielen Verpflichtungen für die drei geplanten „Epilog“-Vorstellungen in dieser ersten Woche der Ballett-Tage loszueisen. Und auch wenn man den Text kaum verstanden, eher geahnt hat, so passte doch die Intonation dieser wunderbaren Sängerin absolut kongenial zum Tanz.
Beide Teile des Abends sind biografisch angelegt, sie spiegeln Neumeiers Weg vom Kapitänssohn aus Milwaukee zum Tänzer, Choreografen und Ballett-Intendanten. Die oft melancholische und doch tiefgründig heitere Musik passt wie angegossen zu Neumeiers Persönlichkeit, aber ebenso dazu, was er hier mitteilen und hinterlassen will, dem Publikum, vor allem jedoch seinen Tänzer*innen, dieser Kompanie, die die seine ist, die er geprägt hat mit allem, wessen er fähig war – als Künstler, als Direktor, als Mensch. Er erklärt sich in dem, was er zu dieser Musik in Bewegung übersetzt, ohne sich erklären zu wollen. Er lässt teilhaben – an Freude und Hingabe ebenso wie an Schmerz und Leid. Er gibt preis, er legt offen, er erlaubt tiefe Einblicke in sein Wesen.
Er habe etwas sehr Intimes abgeben wollen, sagte Neumeier bei der Premierenfeier, etwas, das man eigentlich eher für sich behalten möchte. Seiner Kompanie, mit der er seit so vielen Jahrzehnten verbunden ist, hätte er kein schöneres und wertvolleres Geschenk machen können.
Ein raffinierter Kunstgriff
Der erste Auftritt ist gleichermaßen ein Abgang – denn Caspar Sasse, dieser erst 19-jährige hochgewachsene, enorm ausdrucksstarke Aspirant der Kompanie, erstklassig ausgebildet an der Ballettschule des Hamburg Ballett, tritt von hinten kommend durch eine Tür in einer hohen hölzernen Kulissenwand nach vorne auf die Bühne – noch ganz in der Stille. Neumeier, der auch für Bühnenbild und Licht verantwortlich zeichnet (für die Kostüme ist Albert Kriemler von „Akris“ zuständig), hat sich hier eines Bruchstücks der Herrenchiemsee-Kulisse aus „Illusionen – wie Schwanensee“ bedient. Hier sieht man sie jedoch von hinten, mit all dem Sperrholz, den Markierungen, den Streben. Caspar Sasse kommt also von der Bühne, und gleichzeitig betritt er sie – ein raffinierter Kunstgriff.
Das erkennt man, wenn man nicht mittig im Zuschauerraum sitzt, jedoch nur über ein gleichzeitig laufendes, daneben projiziertes Video von Kiran West, das Caspar Sasses Gesicht in Großaufnahme zeigt. Hier macht ein Video tatsächlich Sinn, könnte aber viel früher ausgeblendet werden, weil es, sobald der Tänzer voll sichtbar ist, die Bewegungen nie synchron zeigt. Später wirkt es sogar ausgesprochen störend und irritierend, nämlich da, wo der Film die Familie, die ohnehin hinter der Projektionsfläche schon in einem Arrangement von Esstisch und Stühlen erkennbar ist, zusätzlich abbildet. Hier erdrückt das Video geradezu den Tanz.
Aus dieser Anfangsstille heraus setzt sanft die Klaviermusik von Schubert ein, und Neumeier entwickelt nach und nach Aspekte seines Lebens – die Kindheit im amerikanischen Kleinbürgertum, in das er nicht wirklich hineinpasst. Die Erziehung auf dem Jesuiten-Kolleg, die Begegnung mit Father Walsh, der zu seinem Mentor wird und mit dem ihn zeitlebens eine Seelenverwandtschaft verbindet. Die Suche nach der Bestimmung, die Liebe zu Kunst, Literatur und schließlich zum Tanz, den Wechsel aus dem eher kleinstädtischen Milieu Wisconsins in die Metropole London, später zum Stuttgarter Ballett unter John Cranko. Die ersten Gehversuche als Choreograf, die erste Ballettdirektion in Frankfurt/Main und schließlich der Ruf nach Hamburg, das ihm zur Heimat wird und von wo aus er den Tanz im 20. und 21. Jahrhundert maßgeblich mitprägt.
Große Tanzkunst
Die verschiedenen Stufen seiner Entwicklung und seine Wesenszüge hat er vier Tänzern anvertraut: Caspar Sasse die Kindheit und Jugend, aber auch den eigenen inneren Kern, der immer in einer liebenswerten Art unbeschwert und naiv geblieben ist (sprachlos machend in einem berührenden Solo zu „Song for the Asking“ von Simon & Garfunkel); Louis Musin die Erwachsenenzeit (kraftvoll und höchst präzise in fast jeder Szene präsent); Alessandro Frola das Glück der Kreativität und die damit verbundene gleichzeitige Einsamkeit (hochelegant und von bestechender Präsenz in einem Solo zu „Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel); Aleix Martínez für das stets zweifelnde Neumeier-Ich, die Fragen, die Unsicherheit; Alina Cojocaru die feminine Seite seines Wesens – zart und verletzlich, aber auch voll innerer Kraft.
Ida Praetorius steht für die Kunst als Muse, Anna Laudere und Matias Oberlin sind die Eltern, Artem Prokopchuk der Bruder. Auch wenn die Personen so im Besetzungszettel nicht ausdrücklich zugeordnet sind, liegt diese Assoziation doch nahe. Neumeier hat es mit Absicht völlig offengehalten.
Nach all den Suchbewegungen folgt das Aufgehen in der Freude des Daseins – wenn die ganze Kompanie in einer wunderbar heiteren Szene über die Bühne wirbelt. Ebenso die zahlreichen Begegnungen mit anderen Menschen, die Konfrontation mit Krankheit und Tod – in den 1980er und 90er Jahren verlor auch das Hamburg Ballett viele große Künstlerpersönlichkeiten an AIDS. Hier zeigt sich ein weiteres Mal Neumeiers Virtuosität in der „großen Form“, den vielfältigen, abwechslungsreichen Arrangements – das ist große Tanzkunst, sowohl in den Ensembles, wie auch den Soli, den Pas de Deux und den kurzen Intermezzi für Erste Solist*innen wie Silvia Azzoni, Madoka Sugai und Sasha Trusch, die sich hier mehr im Hintergrund halten.
„I will go on“
Und auch wenn es sich um „Vier letzte Lieder“ von Strauss handelt, so will Neumeier diesen „Epilog“ doch nicht als Schlussstein verstanden wissen, sondern als Geschenk an seine Kompanie, dieses einzigartige Ensemble, das „etwas Unbeschreibliches“ ist, wie er auf der Premierenfeier sagte: „Eine Oper ist wie ein tolles Blumengeschäft. Eine Ballettkompanie ist ein Garten, der wachsen muss, ein Garten von wunderbaren Menschen. Etwas Schöneres gibt es nicht auf der Welt.“ Wenn er jetzt diesen Garten verlässt, hinterlässt er ihn gut gepflegt. Darin kann vieles wachsen und gedeihen. Demis Volpi sei schon jetzt eine glückliche Hand gewünscht, wenn er diesen Garten im August/September übernimmt und fürderhin hegen darf.
Auch die letzte Zeile des vierten Strauss-Liedes („Im Abendrot“) ist für Neumeier nicht der endgültige Abschied, wenn es da heißt „Oh weiter, stiller Friede, so tief im Abendrot, wie sind wir wandermüde – ist dies etwa der Tod?“ Wandermüde ist Neumeier schon gar nicht – in Baden-Baden wird er schon im Herbst mehrere Wochen lang „The World of John Neumeier“ zeigen, das Bundesjugendballett steht weiterhin unter seiner Führung, es gibt Einladungen an viele Orte in aller Welt.
Und dann ist da ja auch noch das „Institut John Neumeier“, diese Jugendstil-Villa im Hamburger Mittelweg, die ihm die Stadt geschenkt hat, die jetzt für viel Geld renoviert, modernisiert und an die verschiedenen Gegebenheiten angepasst werden muss. Leider hört man dazu, wie es um den Fortgang dieses Unternehmens bestellt ist, bisher nichts. Es bleibt Neumeier zu wünschen, dass er die Eröffnung dieses Hauses, das auch seine riesige Sammlung beheimaten wird, noch miterleben darf.
Nein, es ist nicht der Tod, mit dem er sich hier aus dem Opernhaus und dem Ballettzentrum verabschiedet. „I will go on“, sagt er zum Abschluss seiner Rede. „Wenn nicht hier, dann anderswo.“ Man darf gespannt sein!
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