Pessimismus als Hochzeitsparty
Bodytalk und Theater Titanick fragen in „Kipppunkte“ nach dem Mensch nach dem Klimakollaps.
Bodytalk lädt im Pumpenhaus Münster in den „Host Club“
„Mein Name ist Pawel. Ich bin heute Abend dein Host.“ Der Tänzer Pawel Malicki setzt sich im Foyer dazu, ein wenig schleimig, aber durch und durch Charmeur, bezirzt er vor allem die Damen im Publikum zwischen Plastikperlen, China-Bombonieren und Sektglaspyramiden. Drei Klebe-Herzen bekommt jede (und jeder), um den Superhost zu küren. Denn Pawel ist nicht allein, auch vier andere Hosts (Bartosz Przybylski, German Hipolito Farias, Martijn Joling und Tirza Naomi Ben Zvi) werben um die Herzen der Zuschauerinnen. So befindet sich der ganze Raum bald in der Stimmung eines surrenden Dauerflirts. Dazu gibt es Sekt, damit es ein bisschen prickelt, und eine Dame mit Domina-Habitus (Mareike Fiege) macht klare Ansagen.
Host Clubs sind eine japanische Erfindung. Hier können sich gut betuchte Damen von jungen Herren gegen das nötige Kleingeld nach allen Regeln der Kunst verwöhnen lassen. Die Münsteraner Company Bodytalk unter der künstlerischen Leitung von Yoshiko Waki und Rolf Baumgart präsentiert nun mit „Host Club – Last Art Standing“ ihre ganz eigene Lesart des Phänomens und das wie gewohnt bunt, laut und schrill. Denn auf der Bühne ist dann Schluss mit schmeichelnder Soiree, es geht ans Eingemachte.
Sozialkritik und Spektakel
Unter dem Johlen der Zuschauer*innen (das natürlich Fragen aufwirft) und deftigen Dance-Beats von Yasin Wörheide, der auch schon mal zur E-Gitarre greift, wenn es sein muss, verausgaben sich die Hosts in einer Gruppenchoreografie auf der Bühne, die sich schon bald zu einer Striptease-Nummer entwickelt, bei der zwei Tänzer Bierkästen mit ihren Penissen herumtragen. Denn der Glamour weicht der Kritik an der Sisyphos-Arbeit der Attraktivität, für die Bodytalk einmal mehr starke Bilder findet. Denn auch die Hosts sind selbstredend eher unten in der sozialen Nahrungskette angesiedelt und Machtstrukturen gnadenlos ausgeliefert.
Andere Szenen wiederum lassen geradezu akrobatisches Können aufblitzen. So tanzt Timo von der Horst, eigentlich der Techniker der Gruppe, einen imposanten Tanz auf einer großen Bühnenleiter. Ein tolles Bild. Zwischen den Hosts flitzen dann noch Nanako Oizumi, eigentlich Ausstattung, und Momoko Baumgart, die für Grafikdesign und Video zuständig ist, hin und her. Bei Bodytalk muss einfach jede*r ran.
Überbordende Bilder- und Assoziationsketten
Komik und Ernst wechseln in atemberaubenden Tempo in diesem überbordenden Bilderreigen mit seinen inkommensurablen Assoziationsketten. Da sprintet Yoshiko Waki über die Bühne, haut ihrer erwachsenen Tochter Mamako Baumgart eine runter („Was machst du hier?! Das ist nichts für dich!“) und zieht danach eine lange Tamponkette hervor, mit der dann munter Springseil gespielt wird. Vorne hält Tirza Naomi Ben Zvi derweil einen Monolog über die (verletzten) Gefühle der Frauen beim Sex und fordert gegenseitigen Respekt statt Cumshots aufs Gesicht ein. Dann fummelt sie einen rot getränkten Tampon hervor, der in das oberste Glas einer Sektglaspyramide wandert, und während von oben Wasser gegossen wird, wird sie darunter mehr und mehr erdrückt. Gleichzeitig liefern sich nun vorne Pawel Malicki und Mareike Fiege eine emotionale Szene, in der er sie zurückweist, worauf sie kalt feststellt: „Ich habe bezahlt.“
Alles passiert gefühlt auf-, neben- unter- und übereinander. Un(be-)greifbar! Die atemlose Schlussvolte, in der Prostitution als Zukunft der Kunst angesichts der zurückgehenden Förderungen formuliert wird, geht in der expressiven Tomaten- und Wasserschlacht auf der Bühne schon vollkommen unter. Nachdem sie in ihrem letzten Stücke auf der Suche nach dem Dancefluencer waren, eine konsequente Entwicklung.
Bodytalk bleibt ein energetischer Bulldozer, der mit seiner ausufernden Ästhetik alles unter sich begräbt. Darin bleiben sie sich auch in dieser Produktion treu.
Und wer wurde Superhost? Bartosz. Einen wirklichen Unterschied macht das allerdings nicht in diesem großen Spiel und Spektakel namens Aufmerksamkeitsökonomie.
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