Männliche Prostituierte und blutige Tampons
Bodytalk lädt im Pumpenhaus Münster in den „Host Club“
Bodytalk und Theater Titanick fragen in „Kipppunkte“ nach dem Mensch nach dem Klimakollaps.
Auf einmal faucht es aus allen Rohren. Die Windmaschine läuft eh’ schon auf vollen Touren, aus einem Widder quillt unendlicher Schaum und dann haut auch noch Pressluft aus den Düsen im Boden der ohnehin ständig hydraulisch kippenden Plattform. Mittendrin versucht das siebenköpfige Ensemble bestehend aus Mitgliedern des Theater Titanick und der Company Bodytalk irgendwie die Fahne der Zivilisation hochzuhalten und eine irgendwie standesgemäße Hochzeit durchzuführen: mit Aufmarsch, Brautkleid, Zeremonie und Feiertagsschmaus – der aber in diesem Fall nur aus abgerissenen Menschenbeinen besteht.
„Kipppunkte“ heißt der große Open-Air-Theaterabend, den Yoshiko Waki von Bodytalk und Uwe Köhler von Titanick gemeinsam gestaltet haben. Die beiden Companies sind in Münster quasi Nachbarn, aber die 1990 gegründete Company für megalomanisches Straßentheater hat einen zweiten Standpunkt in Leipzig, wo traditionell die Werk- und Probenräume der Gruppe sind. 1990 war es eine der ersten gemeinsamen Ost-West-Neugründungen und Titanick steht seitdem für spektakuläres Straßentheater mit großen Maschinen in der Tradition von Gruppen wie La Fura dels Baus aus Barcelona. Jetzt haben sie erstmalig mit den Tanz-Punks von Bodytalk zusammengearbeitet und das Ergebnis wird am 27. Juni zum Flurstücke-Festival in Münster gezeigt, allerdings gab es natürlich zuvor auch ein kleines Showing in Leipzig, auf das diese Beobachtungen basieren.
Schmelzender Eisberg oder wachsender Plastikmüll?
Das Stück widmet sich der Klimakrise, ist also einzuordnen in den Trend des Theaters des Anthropozäns, verzichtet aber im Gegensatz zu anderen Inszenierungen auf Pädagogik und rührige Wissenschaftsbeiträge. Stattdessen wird mit der Lust an der Zerstörung die Klimakrise bildreich als Anwendungsfall durchexerziert – mit Live Musik (großartig an Klarinette, Klavier, singender Säge und Bogos: Jakob Reinhardt). Die Bühne ist mal als Eisberg, mal als Müllberg zu lesen. Sie ist weiß, meterhoch mit Plastikfolien aufgebaut und in ihr lassen sich eine ganze Menge technischer Gimmicks verstecken, die dann Lauf des Abends schön zur Eskalation beitragen, wie ein wasserspritzendes Gipfelkreuz, die riesigen Windmaschinen und kleinere Explosionselemente hier und dort, wobei neben Luft und Wasser, das Feuer in dieser Inszenierung nur einen kleinen Teil der Aufmerksamkeit bekommt und gegen Ende eher für die ruhigen Momente unter brennendem Hochzeitsbogen zuständig ist.
Ist die Ausstattung zu 100 Prozent Titanick, so lässt die Dramaturgie des Abends klar die Handschrift von Bodytalk erkennen. Wilde eskalierende Szenen, keine klare Geschichte, aber dafür viele starke Assoziationen und durchaus auch hier und da der Mut zum Klamauk. Das angedeutete Ritual der Hochzeit wird trotz des Beschusses durch die Elemente gnadenlos nach vorne getrieben, auch wenn alle Performenden wild durchgeschüttelt werden, der Standesbeamte in einem Loch verschwindet oder einige von der schiefen Ebene purzeln, auf dem ein Flugzeugflügel als Tisch aufgestellt wurde. Das führt bisweilen zu kleinen artistischen Einlagen. Gesprochen wird nichts oder wenn dann nur in einer Fantasiesprache, oder ein paar Brocken aus dem Funkgerät, die den Ernst der Lage verdeutlichen. Lediglich am Ende, wenn alle in Ballonseide erstarrt sind, gibt es den sentimentalen Brief einer Tochter an ihre Mutter irgendwo da draußen.
Da sind die Menschen aber schon verschwunden, statt dessen bevölkern Tiere die Bühne, die aus ihren Masken auch schießen können, und die Hoffnung der Menschheit liegt im Grunde am Boden. Bildgewaltiger Pessimismus, der allerdings so manche Frage offen lässt. In diesem Zweifel keimt die Hoffnung zwischen all dem Plastik.
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