„24/7 Neue Todsünden“ von Bodytalk und dem Polski Teatr Tańca

Auch digitale Zombies beißen

„24/7 Neue Todsünden“ von Bodytalk und dem Polski Teatr Tańca als deutsche Erstaufführung im Leipziger Lofft.

Zombie-Moves, Vaping-Joga, Schaumstoffbitcoin und ein Oktopus-pus-pus: Bodytalk sucht nach Sinn im digitalen Irsinn.

Leipzig, 04/05/2024

Und dann explodiert es doch noch. Im wilden Getümmel werfen sich 16 Tänzer*innen Unmengen von Schaumstofffetzen um die Ohren. Einer erschlägt sich mit einer übergroßen Facebook-Faust, zwei prügeln sich um den Oberon-Thron und andere hauen einfach aufeinander drauf. Vollkommene Extase, bevor alles im Nebel verschwindet und nur noch das scannende Auge eines Leuchtturms oder einer KI über die Schemen huscht.

„24/7 Neue Todsünden“ nähert sich den digitalen Abhängigkeiten der Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Zunächst ganz ruhig und wohlig. Wie ein blitzender Schwarm strömt das Ensemble auf die dunkle Bühne, die Taschenlampen an den mitgebrachten Smartphones glänzen in den Zuschauerraum. Geradezu poetisch. Doch dann platzt ein Oktopus-pus-pus (Emily Wong in wunderbarem Glitzerkostüm von Nanako Oizumi) in den Abend und verkündet die Geburt des Infludancers oder Dancefluencers, denn im Grunde seien Tänzer*innen ja perfekt dafür: Sie sehen gut aus, beherrschen ihren Körper und können sich bewegen.

Während sie anhebt zu einem schmissigen Popsong, beginnen die anderen sich zunächst zu feiern (die Handys sind mittlerweile auf Selfiesticks gelandet), zu streamen und dann mit den digitalen Lanzen in ganz archaischen Bewegungen zu massakrieren. Keine schöne neue Welt. Später stürzen sie sich wie Zombies wild wankend und brüllend übereinander, bis alle zu digitalen Zombies geworden sind. Die Online-Welle hält keiner auf!

Brachiale Bildgewalt der Online-Welle

Die Münsteraner Company Bodytalk, also das kreative Duo Yoshiko Waki und Rolf Baumgart, sind bekannt für ihre bildgewaltigen Stücke, und mit dem Polski Teatr Tańca verbindet sie eine langjährige Arbeitsbeziehung mit jetzt vier Produktionen. Zuletzt haben sie mit der Company aus Poznań eine ganz eigene Bearbeitung der Geschichte von Romeo und Julia auf die Bühne gebracht, die auf dem Shakespeare-Festival in Gdańsk gleich einen Preis gewonnen hat – als erste Tanzstück überhaupt. „24/7 Neue Todsünden“ hatte am 23. April in Poznań Premiere, und sie bleiben sich ihrer Spielweise treu. Rohe Körperlichkeit trifft auf einen dichten musikalischen Soundtrack (hier von Patryk Piłasiewicz, Patryk Rynkiewicz, allerdings ohne Live-Komponente) zwischen Selbskomponiertem, Pop, Punk und Vivaldi. 

Es ist auch hier ein Ausstellen der Körper, wenn etwa eine Tänzerin zum Joga mit Vapor lädt und herrlich verknotet eine Rauchwolke – fast wie ein Hilferuf – aussendet oder die Tänzer*innen versuchen mit dem eigenen Avatar (Video: Sven Stratmann) zu konkurrieren, dann liegt etwas Gewalttätiges in der Luft. In einer kurzen Sommernachtstraumminiatur wird Oberon mit langem Kunststoffschwanz von Titania mit eben diesem fast erwürgt, und der große Schaumstoffbitcoin dient später vor allem als Polster, um in der finalen Eskalation Leute drauf zu werfen.

Bodytalk und die Tänzer*innen vom Polski Teatr Tańca liefern hier einen emotional verstörenden Blick darauf, was die permanente Online-Beschallung mit dem Menschen macht. Eine brachiale Reise durch dieses ewige Sehnen nach mehr, das schließlich in einem Moment der Ruhe ganz zu sich selbst kommt. Und es ist so schon beinahe Ironie, über diesen Abend in einem Online-Medium zu berichten. Daher jetzt der alte Hinweis von Peter Lustig: Abschalten.

 

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