Auch digitale Zombies beißen
„24/7 Neue Todsünden“ von Bodytalk und dem Polski Teatr Tańca als deutsche Erstaufführung im Leipziger Lofft.
Ästhetisches Delirium und politische Positionierung: Die neue Produktion von „Bodytalk“ aus Köln „AtomHeartMother“ feiert im Leipziger Lofft Premiere
„Atom Heart Mother“ heißt eine alte Platte von Pink Floyd aus dem Jahr 1970, „AtomHeartMother“ die neue Produktion der Kölner Kompanie „Bodytalk“. In Kooperation mit dem Leipziger Lofft entstanden, gab es dort am Freitag die Premiere einer Inszenierung, nach der man geradezu adrenalinverstrahlt war.
Fukushima Mon Amour: Herausgefallen aus der höllischen Verwertungsrotation des Kapitalismus, wird die nuklear verseuchte Landschaft zur paradiesischen Enklave. Was die Kühe, die dort grasen, glücklich machen mag - aber wie sieht es mit den Menschen rundherum aus? „AtomHeartMother“ geht der Frage nach mit einer Inszenierung, die als 70-minütiger Super-GAU in Post-Punk auf der Bühne explodiert. Eine provokante Jenseitsreise ins Land des Lächelns, das hier eines atomaren Strahlens ist. Eine Choreografie zwischen ästhetischem Delirium und politischer Positionierung. Und eine Kreativallianz von Bodytalk mit der japanischen Performance-Gruppe „Futome“, die unter der Ägide Yoshiko Wakis und Rolf Baumgarts gesellschaftlichem Wahnwitz in passend wahnwitzige Kunst transformieren.
Auf der Bühne: zwei Tänzer, drei Tänzerinnen. Nur eine davon ist Europäerin und wohl auch deshalb jene, die bald versucht den herrlich phlegmatisch darauf reagierenden japanischen Mitmenschen kritisches Bewusstsein in Form politischen Skandierens von „Support your local food!“ bis „No more nuclear power!“ beizubringen. Was indes nur ein durchtrieben harmloses Warm-up ist, die Installation zweier Pole, zwischen denen sich bald ein exzessiv Szenen assoziierendes Tanztheater spannt. Und das bis zum Zerreispunkt. Mit wütender Wucht und bösem Humor. Mit martialischen Kampfsportsprüngen und masochistischem Tanzen auf heißer Kochherdplatte. Mit autistisch trancehaftem Verausgaben und gegenseitigem Malträtieren. Mit exzessivem Fressen, Ausspucken, wieder Fressen. Mit dem Ausscheiden kleiner Menschenfigürchen aus Zellstofftüchern, die ihrerseits wieder zurück in die Nahrungskette geführt, in den großen Verwertungskochtopf gestückelt werden. Was Bodytalk-Choreografin Yoshiko Waki da in Bewegung setzt, ist eine Spirale des Ideenüberschusses, in der auch kulturelle Attribute Japans gleich Trümmerstücken umherfliegen.
In der Darbietung ist das von imponierender Selbstverausgabung, zu der zwei Musiker live und effizient beitragen, wenn sie mit minimalistischer Punkwucht, all die theatralen und tänzerischen Brennelemente auf der Bühne bis zum Durchschmoren aufheizen. Nun weiß „AtomHeartMother“ glücklicherweise aber auch bei allem Delirium-Tanz und bizarren Spielszenen inklusive Publikumsinteraktion, um die Notwendigkeit des Kontrastes: Ein stiller „Live-Stream“ nach Fukushima projiziert da etwa ein gespenstisches Nichts an Landschaft. Und wenn später die Choreografie per exzellent gearbeitetem Licht-Schatten-Spiel (technische Leitung: Thomas Achtner) die gesamte Bühne in eine Art Nahtod-Tunnel verwandelt, in dem Schemen in ein Licht treiben, welches paradiesisches Leuchten und Strahlen der Hölle in einem scheint, ist das ungeheuer suggestiv und irritierend beängstigend.
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