Stilreiche Ballett-Premiere
Das Bayerische Staatsballett zeigt sich von einer neuen Seite
„Internationale Ballett-Gala“ im Prinzregententheater
So eine Ballett-Gala gab es in München lange nicht mehr. Am 22. Mai reihte sich im Prinzregententheater eine überraschende Nummer an die nächste. Das Spezifische war jedoch weniger der zumeist klassisch fundierte Grundcharakter der insgesamt sieben Programmpunkte, sondern deren stupende technische Ausführung. Angesichts dessen musste der sich im Publikum befindende Augsburger Ballettchef Ricardo Fernando nach dem ersten Teil eingestehen: „Es gibt Dinge im Ballett, die habe selbst ich noch niemals gesehen!“
Tatsächlich standen nur zwei dezidierte Gala-Knüller bekannter zeitgenössischer Choreografen auf dem Programm dieses glanzvollen Abends, dessen inhaltliche Gewichtung offensichtlich andere Schwerpunkte verfolgte: Zum einen sollten die Zuschauer*innen vom hohen technischen Niveau vieler junger Tänzerinnen der Academy am Ende ihrer Ausbildung überzeugt werden – und womöglich auch anwesende Ballett-Direktoren, die hier nach weiblichen Talenten, die bereits spürbar über Bühnenpraxis verfügen, Ausschau halten konnten. Trotz verschiedener Ausbildungsniveaus wurde diesen blitzblanken und im Ausdruck akkurat einstudierten Ensembleauftritten – zum anderen – durch die Verschränkung mit einem beachtlichen Aufgebot an renommierten Ballettstars eine besondere Note verliehen. Manch ein Tanz-Aficionado mag sich gar in eine eigentümliche „Ballettseligkeit“ versetzt gefühlt haben – spätestens beim heftig akklamierten Comeback der ehemaligen Münchner Primaballerina Lucia Lacarra, die vor acht Jahren noch im Vorfeld des Direktionswechsels von Ivan Liška zu Igor Zelensky das Bayerische Staatsballett verlassen hatte.
Lacarras Auftreten nach der Pause kann man nicht anders beschreiben als in seiner dynamischen Zerbrechlichkeit und künstlerischen Perfektion einfach alterslos faszinierend. Mit ihren nunmehr 49 Jahren wirkt die Spanierin weiterhin kraftvoll und scheint in Form zu sein wie eh und je. In einem körperbetont gräulich zerschlissenen Kleid erlebte man sie an der Seite von Matthew Golding in einem sechsminütigen hingebungsvollen Pas de deux – beide gemeinsam eindrucksvoll wie schon 2020 anlässlich der Verleihung des Deutschen Tanzpreises (digital nachzusehen auf vimeo.com). Kaum zu toppen, verschmolzen Lacarra und Golding gefühlsmäßig in dem zu Musik von Antonio Vivaldi dahinfließenden Duett „Finding Light“. Der in Taiwan geborene US-amerikanische Tänzer und Choreograf Edwaard Liang hatte es als Auftragswerk des Sadler's Wells 2013 für Yuan Yuan Tan und Damian Smith kreiert. In seiner Emotionalität, den starken Momenten von Sehnsucht und der effektvollen Pose einer am Ende quer über den gebeugten Knien des Mannes liegenbleibenden Frau erinnert es an Kenneth MacMillans „Manon“.
Die unterschiedlichen Auftritte von vier Gastsolisten-Paaren sorgten bei der exquisiten Jubiläumsfeier dieser privat geführten Ballettschule mit professioneller Tanzausbildung für ein fulminantes Steigerungspotenzial bis hin zum Schluss. Erst im April hatte die an der Hochschule für Musik und Theater verortete Münchner Ballett-Akademie unter der Leitung von Jan Broeckx zusammen mit dem von Ivan Liška geführten Bayerischen Junior Ballett ein anspruchsvolles Matinee-Programm präsentiert. Ähnlich wie die eben genannten Institutionen, die eine engere Beziehung zum Bayerischen Staatsballett haben, stärker in der öffentlichen Wahrnehmung stehen und das ballettinteressierte Publikum pro Jahr zu vier Vorstellungsterminen ins Münchner Nationaltheater einladen können, fördert die Bavaria Ballet Academy (kurz BBA, vormals: Bottaini Merlo International Center of Arts) tänzerischen Nachwuchs auf beachtlichem Niveau. Alen Bottaini, Kammertänzer und Ex-Principal des Bayerischen Staatsballetts, leitet die Academy gemeinsam mit Monica Merlo, aus deren im Jahr 2000 gegründeter Ballettschule „la danza“ die heutige BBA hervorging. Wer bislang glaubte, München sei in punkto Ballett keine breit aufgestellte Tanzausbildungsstadt, ging also in die Irre.
Allerdings verriet Merlo auf Nachfrage, dass der professionell ausgerichtete Akademiezeig der Academy demnächst von München nach Italien umziehen wird – in die Nähe von Turin, wo die BBA schon in der Vergangenheit wiederholt ähnlich aufwendige Galaprogramme organsiert hatte. Der Grund für eine solche Splittung nach so langer Zeit lässt aufhorchen. Merlo erklärt, „dass die BBA dort viel größere Räumlichkeiten – fünf Ballettsäle und Platz zum gemeinsamen Essen – bekommt“. Damit dürfte Alen Bottaini als Schulleiter und Pädagoge den Tanznachwuchs künftig in seiner Heimat fördern – noch stärker als bislang von der bayerischen Landeshauptstadt aus. Weiterhin im Zentrum von München werden Kinder, Jugendliche und Laien ihr Trainings- und Probenpensum absolvieren. Doch bevor es soweit ist, stellt sich die „Bavaria Ballet Academy“ noch einmal am 14. Juni im Veranstaltungsforum Fürstenfeld unter dem Motto „Schön, schöner … Ballett!“ in ihrer kompletten Ausbildungsbreite von den Kids bis zu den Akademieklassen vor.
Die beachtliche qualitative Messlatte der Gala im Prinzregententheater hatten gleich zu Beginn bereits vier BBA-Absolventinnen gelegt: In schwarzen, goldverzierten Tutus tanzten Giulia Gozzi, Rina Kobayashi, Kangso Kim und Jaqueline Robu zu Musik von Cesare Pugni den Pas de Quatre aus Arthur Saint-Léons 1864 in Sankt Petersburg uraufgeführtem Ballett „Das bucklige Pferdchen“. Auf dem Programmzettel war das Eröffnungsstück mit seinen variantenreichen kurzen Soli und dazwischen oft nur drei Tänzerinnen, die im Raum gerade Linien oder Diagonalen formen, als „Animated Frescoes“ betitelt – passend zu einer Kür auf Spitzenschuhen vor impressionistisch blumig-buntem Hintergrund.
Im Anschluss heimsten Melissa Chaspki aus Medfield/Massachusetts und ihr Partner Sava Milojević aus Belgrad zu Recht viel Beifall ein für ihr abstrakt-modernes Duett „Embers“ von Ernst Meisner zu Musik von Max Richter. Zwei Monate nach ihrer Vertragsauflösung beim Bayerischen Staatsballett waren sie damit bereits bei der Internationalen Ballett- und Tanzgala in Augsburg im Februar 2024 zu Gast gewesen. Auch diesmal passte jeder Schritt, jede Hebung, jede Balance. Umso mehr verblüffte dann, wie viel Luft nach oben Chapski in ihrem darauffolgenden, rein klassischen Part ließ – gerade an jenen Stellen, die eigentlich solistische Virtuosität, Pirouetten bzw. Fouettes vorsehen. Milojević machte das mit einer Serie butterweicher Sprünge aber schnell wieder wett. Gut aufeinander abgestimmt brachten die beiden Gäste royalen Glanz in eine Marius Petipa nachempfundene Choreografie zum „Tanz der Stunden“ aus Amilcare Ponchiellis Oper „La Gioconda“.
Begleitet wurden Chapski und Milojević von dem 24-köpfigen Corps de Ballet aus BBA-Tänzerinnen. In orientalisch verspielten Kostümen mit hochaufragenden Kronen – vor allem aber sehr souverän auf Spitze und grazil in der Haltung „come il faut“ – wurden die fließenden Übergänge und ein erstes Pensum an geometrischen Formvariationen rund um die Solisten gemeistert – farblich abgestuft und so auf drei Gruppen zu je acht Frauen verteilt. „Dance of the Hours“ – irritierenderweise vor einem projizierten Bildhintergrund aus Palmen und Meer angesiedelt – endete typisch romantisch in einem finalen Tableau aller Mitwirkenden – gestaffelt vom Boden bis zur zentralen Hebefigur.
Unmittelbar zuvor hatten die Ersten Solist*innen des Bayerischen Staatsballetts Maria Baranova und Jinhao Zhang den innigen Liebes-Pas de deux aus „Le Corsaise“ in der Choreografie von Joseph Mazilier auf die Bühne gezaubert. Dabei hoben sie – vor dem Hintergrundbild einer bewusst überzogen märchenhaften, riesig dimensionierten Piratenhöhle mit gigantischem Mobiliar und einem Dreimaster in der Ferne – größenperspektivische Gesetzmäßigkeiten aus den Angeln. Atmosphärisch sorgte die kühne Projektion aber sogleich für die richtige Stimmungslage bei diesem, aus seinem erzählerischen Zusammenhang gerissenen Ballettausschnitt. Regelrecht bescheiden nahmen sich dagegen die Wolkenformationen im Hintergrund des einzigen allein von Schüler*innen modern getanzten Stücks „Moonwalker“ (Choreografie: Pedro Dias) aus. Weitere Farbakzente hätten freilich bloß unnötig abgelenkt, da der Clou dieser sich langsam aus einem Pulk schwarzgekleideter Interpreten entwickelnden Arbeit weiße Gesichtsmasken waren, die anfangs alle 24 Interpreten tragen.
Technische Souveränität und darstellerisches Charisma sind entscheidend bzw. schlicht überwältigend, wenn es um die Faszination von tänzerischer Bewegung geht – insbesondere, wenn beides auf höchstem Niveau zusammentrifft. Im zweiten Teil war genau dies in zwei stilistisch vollkommen gegensätzlichen Werken zu erleben. Auf welch interpretatorisch subtile und zurückgenommen ergreifende Weise Iana Salenko und Marian Walter vom Staatsballett Berlin den Gala-Abend ausklingen ließen, ist kaum zu beschreiben. Dabei standen die illustren Gäste – Salenko, Berliner Kammertänzerin seit März 2024, als Nikita und in der Rolle des Solor ihr Mann, der 2018 zum Berliner Kammertänzer ernannt worden war und sein Engagement in der Bundeshauptstadt später wohl aufgrund von Long-Covid-Problemen beendete – gar nicht allein auf der Bühne. Denn dass eine Ballettakademie-Gala mit dem berühmten Schattenakt aus „La Bayadère“ beendet wird, ist mutig. Alen Bottaini und seine Kollegin Merlo scheinen allerdings genau zu wissen, was sie mit ihren und für ihre auf eine Profi-Karriere hinarbeitenden Elevinnen tun.
Die beiden Profis vor Augen, stellten drei der Absolventinnen des Anfangsstücks „Animated Frescoes“ – Giulia Gozzi, Kangso Kim und Rina Kobayashiin – in den Solovariationen der drei Schatten ihr ganzes Können unter Beweis. Auch das restliche Coprs de ballet an Schülerinnen der Bavaria Ballet Academy ließ Leichtigkeit und technische Präzision nicht vermissen. Und dennoch sind die Gäste aus Berlin – zwei internationale Stars, die in ihren Karrieren eigentlich alles erreicht haben – das Tüpfelchen auf dem „i“ dieser insgesamt reifen Leistung. Keine Geste, keine Bewegung, keine Regung, kein schauspielerisches Element führen Salenko und Walter aus, ohne damit körperlich beredt miteinander, ihrer Umgebung und mit dem Publikum zu kommunizieren. Das Spannungsgefüge zwischen Jugend und Reife wird bei diesem Gala-Finale einmal mehr deutlich. Nach wenigen Minuten vergisst man Anlass und Mix dieser Gala-Besetzung, die darstellerisch ganze Akte trägt. Was bleibt, ist die Magie sublimer Ballettkunst.
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