Ritual des neuen Mannes
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Wirkmächtige Bilder zu kreieren, gehörte schon immer zu den großen Begabungen des flämisch-marokkanischen Tänzers und Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui. Mit „Nomad“ hat der heutige Chef des Balletts am Grand Théâtre de Genève das ein weiteres Mal unter Beweis gestellt und kehrt damit zu seinen nordafrikanischen Wurzeln zurück. „Nomad“, das erfreulicherweise im Rahmen des Nordwind-Festivals jetzt in der Hamburger Kampnagelfabrik gezeigt wurde, bringt den Überlebenskampf von Menschen in einer ihnen feindlichen Natur auf die Bühne. Es zeigt aber auch die Zerstörung, die der Mensch selbst zu verantworten hat – durch eine Atombombe, deren gleißende Hitze alles zunichtemacht. Mittendrin eine Gruppe von Menschen, die um ihr Leben kämpft.
Somit passt es trefflich zum Motto des Nordwind-Festivals „New Allies“ – neue Verbündete. Heimat, Lebensraum und Identität stehen hier im Mittelpunkt, wie es in der Pressemitteilung zum Festivalauftakt heißt: „Was bedeutet Heimat in einer Zeit, die von Migrationsbewegungen und Globalisierung geprägt ist? Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf den eigenen Lebensraum? Wie verändert sich das Gefühl von Zugehörigkeit, wenn nationalistische Bewegungen erstarken und rechte Ideologien vermehrt an Einfluss gewinnen? Und welche neuen Allianzen können im Spannungsfeld dieser Themen entstehen?“
Die Wüste als Sinnbild
Es beginnt mit wuchtigen Gongschlägen, in das sich das Zirpen von Grillen mischt, vor einer den hinteren Raum komplett ausfüllenden Leinwand, auf die rissig aufgebrochene, ausgetrocknete Erde und ein wolkenloser Himmel projiziert ist. Vor dieser Szenerie entwickeln die acht Männer und zwei Frauen aus Sidi Larbi Cherkaouis weiterhin in Antwerpen ansässiger Kompanie Eastman über 70 Minuten lang eine Reise durch die Unwirtlichkeit der Wüste in ihren wechselnden Erscheinungsformen. Es sind Nomaden, die sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung zurechtfinden müssen.
Sidi Larbi Cherkaoui beschreibt das mit ständig wechselnden, fließenden, raumgreifenden Bewegungsmustern zu einer fast meditativen Musik-Collage aus verschiedensten, vor allem orientalischen und japanischen Quellen (Musikkomposition: Sidi Larbi Cherkaoui, Felix Buxton, Kaspy N’dia).
Der Mensch: so machtlos wie schuldig
Dabei entwickelt das Bühnengeschehen eine Magie, die willenlos macht und der man sich im Schauen nur noch hingeben kann. Man schwingt mit, innerlich wie äußerlich, unwiderstehlich anzogen von dem durch die phänomenalen Tänzer*innen entwickelten Sog. Grandios eine Szene, in der zwei Frauen auf zu Kamelen verkleideten Männern auf Stelzen sich des Angriffs von Raubtieren erwehren. Nicht minder zwingend die Ausstrahlung des japanischen Tänzers Kazutomi ‚Tsuki‘ Kozuki mit seiner schlangenhaften Geschmeidigkeit.
Bei der Reise durch Naturereignisse wie Hitze, Sandsturm, Gewitter und Starkregengüsse wird klar: Überleben kann man nur in der Gemeinschaft. Aber auch sie ist letztendlich machtlos, wenn der Mensch sich selbst zerstört: sinnbildlich dargestellt durch eine auf die Leinwand projizierte Explosion einer Atombombe. Die Schlussszene ist entsprechend eindrücklich: Die Gruppe entledigt sich am hinteren Bühnenrand bis auf die Unterwäsche ihrer Kleidung, nacheinander kommen sie einzeln wieder zurück und streuen Lehmpulver in geometrischen Mustern auf die Bühne, um sich – wiederum am hinteren Bühnenrand – mit Wasser zu übergießen und mit Lehm einzuschmieren. Das Entsetzen über die Zerstörung der Welt zeigen die nachfolgenden Tänze in all seiner Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Und doch bleibt ein Hoffnungsschimmer: Immer wieder finden sich alle, angeführt von Tsuki, zu einer langen Reihe zusammen, während klagende afrikanische Gesänge (live gesungen von Shak Shakito) ertönen. Ob die Menschen der Apokalypse letztendlich entkommen können, bleibt offen.
Sidi Larbi Cherkaoui und seiner großartigen Kompanie ist hier ein Stück gelungen, das noch lange nachklingt.
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