„Odyssee“ von John Neumeier, Tanz: Sasha Trusch, Ensemble

Plädoyer für den Frieden

Wiederaufnahme von John Neumeiers „Odyssee“ beim Hamburg Ballett

Pünktlich zu seinem 85. Geburtstag feierte eines der wichtigsten Werke des Hamburger Ballett-Intendanten Wiederauferstehung – ein Geschenk an sich selbst und seine Kompanie

Hamburg, 26/02/2024

Wenn das Publikum sage und schreibe 135 Minuten lang ohne Pause mucksmäuschenstill dem Geschehen auf der Bühne folgt, wenn über so lange Zeit kaum ein einziger Huster die hohe Konzentration im Raum durchbricht, dann, ja dann muss auf den Brettern, die auch für Tänzer*innen die Welt bedeuten, etwas Besonderes vor sich gehen. So geschehen am 24. Februar 2024 in der Hamburgischen Staatsoper, als John Neumeiers „Odyssee“ wiederaufgenommen wurde, knapp 30 Jahre nach der Uraufführung in der Megaron Concert Hall in Athen, und fast 20 Jahre nach den bisher letzten Vorstellungen in der Spielzeit 2004/2005.

Krieg und Frieden

Es war bewegend in mehrerlei Hinsicht. Zum einen, weil Neumeier selbst sich die Wiederaufnahme dieses wichtigen Werkes an seinem 85. Geburtstag zum Geschenk machen wollte – es fehlte im Reigen der großen Meilensteine, die sein Œuvre auszeichnen und die er anlässlich seines 50-jährigen Jubiläums in der vergangenen Spielzeit zusammengestellt hatte. Dass ihm mit der Saison 2023/24 noch ein „Epilog“ gegönnt wurde, weil Demis Volpi in Düsseldorf vorher noch nicht frei kam, geriet so zum Glücksfall – konnte er doch damit die „Odyssee“ ins Programm heben. Dass sie thematisch so kongenial ins Zeitgeschehen passen würde, war seinerzeit noch nicht absehbar. Das Thema Krieg und Frieden, das eines der Kernthemen in dem griechischen Heldenepos darstellt, ist jedoch zeitgemäßer denn je. Und so wird aus dem antiken Stoff unversehens eine hochaktuelle Auseinandersetzung mit dem, was die Welt heute in Atem hält.

Rohheit und Gewalttätigkeit

Odysseus durchläuft nach dem Ende des 10-jährigen trojanischen Krieges auf seiner Irrfahrt die verschiedenen Stadien, die Kriegshelden auch heute noch mit sich auszufechten haben. Die Rohheit und Gewalttätigkeit, die sich nach zehn Jahren Krieg verselbständigen und aus Menschen Bestien machen. Die Bilder, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Die Sehnsucht nach Nähe und Ruhe. Die Verzweiflung, die Einsamkeit, die tiefen seelischen Wunden. Neumeier findet für diese essenziellen Fragen eine ganz eigene choreografische Sprache, die man so bisher von ihm nicht kannte. Schon deshalb ist die „Odyssee“ singulär in seinem Schaffen. Sie ist es aber auch, weil er in diesen Skizzen eines Männerlebens so viele Schattierungen herausarbeitet, die aus einem Krieger einen Menschen machen. Und weil er nie der Versuchung erliegt, das kriegerische Geschehen effekthascherisch aufzubauschen. Es ist so dosiert eingebaut, dass es einerseits in all seiner Grausamkeit erkennbar wird, aber gleichermaßen von der Gegenkraft der Liebe in Schach gehalten wird. Odysseus und Penelope sind bei ihm zwei Pole, die einander bedingen. Und nur, wenn er die Frau in sich freilegt, nur, wenn sie das Männliche in sich leben lässt, können beide eins werden. Nur dann gibt es Frieden.

Meditative Ruhe und Konzentration

Wie Neumeier den Weg der Entwicklung zeichnet, den sowohl Odysseus als auch Penelope in der Zeit ihrer Trennung auf sich nehmen müssen, bis sie wieder zueinander finden, macht das Stück so tiefgreifend und zeitgemäß. Es atmet über lange Strecken eine fast meditative Ruhe und Konzentration, die sich auf das Publikum überträgt. Neumeier erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern arbeitet deren Essenz heraus, ihren Kern, die wesentlichen Elemente, die sich wie ein Puzzle schließlich zu einem Ganzen zusammenfügen. Bei Kalypso findet Odysseus Hingabe und Liebe, bei Nausikaa Unschuld und Frieden, bei Kirke Erotik und Dominanz, während zwischendurch immer wieder das Kriegsgeschehen aufbricht und das Meer in Person von sieben Frauen in königsblauen Samtroben mit über fünf Meter langen Schleppen Odysseus während seiner Irrfahrten aufnimmt und an den Küsten wieder entlässt, bis er schließlich zuhause in Ithaka strandet. 

Die Götter schauen zu

Penelope wiederum muss sich mit List der Freier erwehren, die sie belagern, findet Unterstützung und Hilfe bei Eurykleia und den Frauen. Telemachos, der Sohn der beiden, macht sich auf die Suche nach dem verlorenen Vater und wird bei dessen Rückkehr von ihm fast erschossen, windet ihm jedoch die Pistole aus der Hand und lässt ihn erkennen, wo seine innere und äußere Heimat ist. Die Götter im Olymp schauen derweil dem Geschehen mehr oder weniger gelangweilt zu, ein großer Monitor zeigt ihnen das Geschehen auf der Erde (und im Kriegsfall authentische Filme aus aller Welt, auch mit Beispielen aus jüngster Zeit). Pallas Athene steigt in diverser Verkleidung herab, um Odysseus‘ Wege in die richtigen Bahnen zu lenken.

Mit am bewegendsten ist jedoch der Schluss, wenn sich das Volk zusammenfindet und Odysseus und Penelope in seine Mitte nimmt, bis sich ganz am Ende Odysseus noch einmal aus der Menge erhebt und den Blick ins Publikum richtet – der ewig Suchende, der Mahnende. Es ist ein Plädoyer für den Frieden, das Hoffnung schöpfen lässt, trotz aller Kriege. Nichts braucht unsere Zeit mehr.

Bravourös getanzt, meisterhaft gespielt

Ein Geschenk ist diese „Odyssee“ aber nicht nur für das Publikum und den Jubilar, sondern vor allem für das gesamte Ensemble. Das Hamburg Ballett meistert die vielen verschiedenen stilistischen und darstellerischen Anforderungen, die dieses Stück mit sich bringt, bravourös. Allen voran Sasha Trusch als Odysseus – wild, roh, ungestüm, brutal, aber gleichermaßen hilflos, schwach, suchend, einsam, verletzlich, zärtlich, liebevoll. Alle Facetten vermag er tänzerisch bis in alle Tiefen auszuloten. Das ist große Kunst und steht der Wucht des ursprünglichen Odysseus, Ivan Liska (der bei der Premiere anwesend war), in nichts nach. Olivia Betteridge ist eine ebenso starke wie hingebend-wissende Kalypso; in ihr kann Odysseus eine Heimat auf Zeit finden, Trost und Zuspruch. Louis Musin gibt dem Telemachos eine kindliche Frische, aber später auch eine gewisse Reife. Eleanor Broughton ist eine wunderbar jugendlich-unschuldige Nausikaa, während Madoka Sugai als Kirke zu atemberaubender Hochform aufläuft – dass sie Männer in quiekende Schweinchen zu verwandeln vermag, glaubt man sofort ... Alessandro Frola und Francesco Cortese tanzen den „Krieg“, den in der Ursprungsfassung die Bubenicek-Zwillinge Jiri und Otto so einprägsam definiert haben, mit hoher Präsenz und Kraft. Ida Stempelmann als Eurykleia ist der ruhende Pol unter den Frauen in Ithaka.

Demgegenüber bleibt Charlotte Larzelere als Penelope eher farblos und blass, ebenso Ida Praetorius als Pallas Athene. Da sehnt man sich Darstellerinnen vom Kaliber Anna Polikarpovas und Anna Grabkas herbei, die 1995 als Penelope und Pallas Athene brillierten und Maßstäbe setzten.

Musikalische Charakterisierung

George Couroupos komponierte 1995 als Auftragswerk die passende Musik zu diesem schwierigen Opus und ließ es sich – bereits hochbetagt – nicht nehmen, zur Premiere eigens anzureisen. Er, der studierte Mathematiker, ordnet den Hauptpersonen jeweils ein Instrument zu, das sie musikalisch charakterisiert: Bei Odysseus ist es die Trompete, die dank unzähliger Dämpfer die unterschiedlichsten Töne hervorbringen kann. Denn, so Couroupos in einem höchst informativen Gespräch mit Angela Dauber (ein Nachdruck aus dem früheren Programmheft): Die Trompete könne „heldisch klingen, männlich, lächerlich, die Katastrophe ankündigen, aber auch fragil, zart sein. Immer wandelt sie sich – wie Odysseus. Mal ist er der Kämpfer, mal der Reisende, mal der Liebhaber ... er ist nie er selbst. Er verliert seine Identität.“ Penelope ordnet Couroupos die Bratsche zu, Telemachos die Querflöte, Pallas Athene die Altflöte, Kalypso das Cello. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der stilsicheren Leitung von Markus Lehtinen spielt sich souverän durch die schwierige Partitur.

Yannis Kokkos überzeugt mit schlichten Kostümen und einem grandiosen Bühnenbild, dessen hinteres Halbrund den griechischen Theatern nachempfunden ist – mit Regenbogentüren als Brücke zum oberhalb auf der Empore, durch eine wellenförmige Lichtröhre abgegrenzt, angesiedelten Olymp.

Das Premierenpublikum war sichtlich ergriffen und feierte alle Beteiligten mit Standing Ovations.

Kommentare


Einige Tage nach meinem Besuch der „Odyssee“ am 25. Februar las ich Annette Bopps kenntnisreiche Kritik und war hocherfreut, wie detailliert sie John Neumeiers vielleicht wichtigstes Werk, die Vergegenwärtigung des homerischen Epos über Krieg und Frieden, gewürdigt hat. Bis ich zu dem kurzen Absatz kam, der mit dem Satz beginnt: „Demgegenüber bleibt Charlotte Larzelere als Penelope eher farblos und blass, ebenso Ida Praetorius als Pallas Athene.“

Das habe ich ganz anders erlebt: Wie die gesamte Inszenierung kontinuierlich an Bedeutungsdichte zunahm und mit der Vereinigung des 20 lange Jahre getrennten Paares zum Ziel fand, so gipfelte auch das Tanzgeschehen in dem Pas de deux von Alexandr Trusch mit Charlotte Larzelere. Sie entsprach nämlich als sehr junge, noch immer schöne Penelope ganz dem, wonach der Held sich sehnte, zeigte sich aber gleichzeitig in dessen Abwesenheit so gereift, dass sie noch in der Freude immerfort prüfte, ob das Glück der Heimkehr des Gatten, das ihr endlich in Erfüllung ging, wirklich kein Trug war. Hierin war sie dem Partner ebenbürtig, hier bedurfte es keines intensivierenden Nachdrucks, denn die Qualität ihres Tanzes bestand gerade darin, dass sie im Spannungsfeld dieser grandiosen Emotionen nichts zu stark akzentuierte. Desto lieber las man ihren respektive Penelopes Gedankenreichtum, was Charlotte Larzelere tänzerisch mit berührender Offenheit möglich machte.

Auch Ida Praetorius blieb nicht so blass wie in dem zitierten Abschnitt zu lesen. Sie spielte ihre Rolle zwar ohne sichtbare Dominanz, doch das passte dazu, dass Pallas Athene in der Regel nur Einzelpersonen in jeweils anderen Gestalten erschien.


Hervorzuheben bleibt noch das Emblematische vieler Szenen. So präsentiert Neumeier mit Homers bezaubernder Nausikaa die Märchenfigur der schönen Königstochter. Die unterscheidet sich als Typ von anderen Frauen: Während all ihre Gefährtinnen vor der nackten, vom Meer geschundenen Gestalt fliehen, hat einzig Nausikaa vor Odysseus keine Angst, sondern erkennt seine Besonderheit und verliebt sich in ihn. Ebenso emblematisch ist, wie Neumeier an der Verbindung von Odysseus und Penelope das höchste Potenzial dessen zeigt, was ein Paar füreinander bedeuten kann, auch dies ganz im Einklang mit Homer.

Zu den unzähligen Vorzügen dieses Werks und seiner Aufführung gehört, wie Neumeier Anklänge an den geometrischen Stil und griechische Tanzschritte schafft, vor allem aber, wie er seine reiche Auswahl der einzeln erarbeiteten Episoden miteinander verbindet. Als Beispiel greife ich auf die Nausikaa-Szene zurück: Langsam wagen sich die anmutigen Mädchen aus ihrem Versteck hervor und kleiden Odysseus in die von ihnen gerade frisch gewaschenen Gewänder. Währenddessen bildet sich um sie ein Kreis von zwölf exotisch kostümierten Tänzer*innen, und schon steht – ohne den langen Weg vom Strand zum Palast des Alkinoos und der Arete – Odysseus weiß gekleidet mitten unter den vornehmen Phäaken. Dort gibt er sich, gerührt vom Gesang des Demodokos von Trojas Eroberung durch seine List mit dem hölzernen Pferd, zu erkennen und beginnt seine Erzählung.

Monumental hat Neumeier die „Odyssee“ in die Gegenwart geholt. Emblematisch auch im Ganzen! Denn er hat Bilder von Kriegen und Traumata unserer Zeit integriert, gleichzeitig aber mit seiner wunderbar motivierten Company das Publikum für die faszinierende Sphäre dieses homerischen Epos gewonnen! Man sollte es als eine Grundlage unserer Kultur kennen, zeitgemäß wie das Hamburg Ballett als Friedensappell exponieren, aber Homer nicht im Zuge falsch verstandener Demokratisierung aus den Lehrplänen streichen und so die Menschen berauben.

Karl-Peter Fürst


Lieber Herr Fürst, vielen Dank für Ihre wohlwollenden und ausführlich ergänzenden Kommentare. Vielleicht bin ich zu sehr geprägt von den früheren Darstellerinnen (wie im Text erwähnt: Anna Polikarpova und Anna Grabka), die in meinen Augen eine sehr viel größere Bühnenpräsenz und Ausdrucksstärke hatten als Charlotte Larzelere und Ida Praetorius. Für mich waren die beiden für die Anforderungen, die diese Rollen an sie stellten, zu farblos. Aber wie schön, dass Menschen das unterschiedlich sehen und einschätzen – und die Kommentarmöglichkeit hier gibt dem dann den nötigen Raum. Nochmals vielen Dank und herzliche Grüße - Annette Bopp


Lieber Herr Fürst, 

was mir eben noch auffiel: Sie waren am Sonntag in der Vorstellung, ich bei der Premiere am Samstag (24.2.) - vielleicht erklärt sich auch daraus der Unterschied in der Wahrnehmung. Die Vorstellungen können ja sehr unterschiedlich sein. 
Herzliche Grüße 

Annette Bopp

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