Tabula Rasa in Köln
Aus für Richard Siegal und sein Ballett of Difference
„The people united“ – gespielt von Igor Levit, choreografiert von Richard Siegal in Bregenz
Zur 200-Jahr-Feier der USA im Jahr 1976 bestellte die Pianistin Ursula Oppens beim amerikanischen Avantgarde-Komponisten Frederic Rzewski ein Stück, das ein Programm mit Beethovens Diabelli-Variationen komplettieren sollte. Was er ablieferte, war ein künstlerisch hinreißender und zugleich politisch beißender Kommentar zur Politik seines Vaterlandes. „The People United will never be defeated“ besteht aus 36 Variationen über einen chilenischen Protestsong des Komponisten Sergio Ortega, der drei Jahre nach dem – maßgeblich von den USA geförderten – Militärputsch zu einem musikalischen Symbol des Widerstands gegen das Pinochet-Regime geworden war.
Die Melodie dieses Liedes ist schlicht, wie es sich für eine Volkshymne gehört, der Refrain dafür Schlachtruf-tauglich. Was Rzewski in seiner polyphonen Bearbeitung daraus gemacht hat, bringt selbst gestandene Pianisten an die Grenzen ihrer technischen Fertigkeiten und stilistischen Bandbreite – nicht so Igor Levit, zu dessen Repertoire das „unspielbare“ Stück gehört. Mit der Aufführung beim Tanzfestival Bregenzer Frühling betrat aber auch er stilistisches Neuland: in der Zusammenarbeit mit dem Choreografen Richard Siegal, der für sein Ballet of Difference eine neue Choreografie zur legendären musikalischen Vorlage schuf. Der Eventcharakter dieser außergewöhnlichen Produktion bestand dabei gerade in der Konzentration auf das Wesentliche.
Für Richard Siegal war diese choreografische Arbeit keine wie jeder andere. Respektvoll überließ er das größere Feld der Ehre dem Komponisten, in dessen Agenda politischen Engagements das Musikstück auf ganz besondere Weise passt. Der Choreograf tat, was er in jedem seiner Arbeiten gezeigt hat: Er arbeitet sich mit kühlem Blick und heißem Engagement an den Möglichkeiten und Grenzen des klassisch fundierten Balletts ab. Eigentlich machte er da weiter, wo William Forsythe (dessen Startänzer Siegal lange Jahre war) nach seinem Rauswurf aus der Frankfurter Oper einen Schnitt gemacht hat: nämlich die technischen Möglichkeiten des Balletts bis ins Absurde auszureizen und zugleich dessen Stereotypen, Rollenzuschreibungen und gesellschaftliche Codierungen quasi mit dem Seziermesser offenzulegen. In „The People United“ stellte sich für Siegal eine zusätzliche Herausforderung: Die Choreografie war zugleich ein Abschiedsgeschenk an seine Kompanie, die schon in der Auflösung begriffen ist. (Die Kölner Kommunalpolitik leistete sich einen waschechten Schildbürgerstreich, indem sie dem Mann und der Kompanie, denen sie den fulminanten Aufstieg des Tanzes in der Domstadt verdankt, ein weiteres Verbleiben dort unmöglich gemacht hat.)
Ironische Brechungen der Seherwartungen
Auf einer halbrunden, von grauen Vorhängen eingerahmten Bühne durften die Tänzer*innen – erst in individuell variierter schwarzer Alltagsmode, später in variablen Kostümen mit dezenten Anspielungen an (Tanz-)geschichte – noch einmal so richtig zeigen, was sie können: ziemlich viel. Dabei gelingen Siegal immer wieder ironische Brechungen der üblichen Seherwartung, allem voran in den Zuschreibungen des üblichen Bewegungsvokabulars für die beiden Geschlechter. Siegal schickt seine elf Ensemblemitglieder immer wieder einzeln oder in kleinen Gruppen auf die Bühne – dem „united“ aus dem Titel setzt er ein solides Misstrauen gegenüber.
Wie weit kann eine Hymne wie „The People United“ heute noch tragen? Igor Levit, in Russland geborener, in Deutschland aufgewachsener säkularisierter Jude, Mitglied der Grünen und einer der wenigen politischen Aktivisten im kleinen Club der Künstler mit Weltruhm, arbeitet sich am Klavier hör- und sichtbar ab an den widerstreitenden Gefühlen. Während seiner improvisierten Kadenz bleibt die Bühne leer – keine Ablenkung von jedem einzelnen Ton, den sich Levit geradezu fühlbar schmerzhaft abringt. Solidarität mit wem, wofür? Gibt es den Zusammenhalt in der Gesellschaft noch und wie weit reicht der Riss zwischen widerstreitenden Lagern? Da, ganz zuletzt, dürfen die Tänzerinnen und Tänzer auch wieder auf die Bühne, dürfen sich zwei gegensätzliche Gruppen im Wippschritt zum Unisono mischen, wenn noch einmal das chilenische Lied erklingt – bis ein auf dem Boden zusammengebrochener Tänzer an all die Opfer erinnert, die der Ruf nach „Gleichheit und Würde für Alle“ gekostet hat.
Am Ende lagen sich Pianist und Choreograf lange in den Armen. Sechzig Minuten Performance, fünfzehn Minuten Standing Ovations – ein Abend, an dem die Menschen gerne noch ein bisschen zusammenbleiben wollten, wenigstens hier und jetzt.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments