Das Schwarze muss ins Blaue
Mario Schröder zeigt mit dem Ballett Leipzig seine Uraufführung von „Paradise Lost“
Mario Schröder zeigt zum Abschied seine Version des Ballettklassikers „Giselle“ mit dem Leipziger Ballett
„Giselle“ ist eine der Klassiker des romantischen Balletts mit seiner Geschichte vom Bauernmädchen, in das sich der Prinz verliebt, dann aber stirbt, weil die Liebe vom eifersüchtigen Försterjungen enttarnt wird. Bäuerliche Panoramen, an Volkstänze angelehnte Massenchoreografien dominieren üblicherweise das Bild, im zweiten, im weißen Akt dann der Tanz der Willis, der gestorbenen unverheirateten Frauen, die tanzend Rache an den Männern nehmen, die sie in ihre Fänge bekommen.
Bei Mario Schröders „Giselle“ in der Leipziger Oper ist das alles hinfortgefegt, es macht aber Sinn, all diese Bilder im Kopf zu haben, um in Schröders Auseinandersetzung mit „Giselle“ voll einsteigen zu können. Er hat dazu nicht nur sein Leipziger Ballett und das Gewandhausorchester unter der Leitung von Matthias Foremny zur Verfügung, sondern hat sich noch das Frauen-Vokalensemble Sjaella sowie die Percussionistin Xizi Wang auf die Bühne geholt, die den romantischen Kompositionen von Adolphe Adam einiges entgegensetzen. Gleich zu Beginn sind es die sechs Sjaella-Damen, die dem wie in einem Museum aufgestellten Balletttänzerinnen und -tänzern Leben einhauchen. Ihre mehrstimmigen Gesänge sind mal sphärisch, mal geistlich angehaucht und nutzen mindestens vier Sprachen. Wie Geister wandeln sie über die Bühne, wirken geradezu leicht gegen die im Kontrast doch eher schweren opulenten Orchesterparts. Die Texte finden sich im Programmheft, aber es ist vor allem der poetische Ausdruck der Frauenstimmen, dieses durch Percussion und Vibrafon permanente Unterbrechen und Auffüllen der klassischen Orchestermusik, das hier zum Tragen kommt.
Tanz bis zum Agitprop
Giselle selbst, getanzt von Yun Kyeong Lee, muss hier keine folkloristischen Rituale ertanzen, vielmehr sitzt sie über weite Strecken am Rand, und das Publikum sieht über die Bühne in ihren Kopf, ihre Gedanken, Träume und Bilder, die sie als Frau umtreiben. Da gibt es glückliche Momente, aber auch Gewalterfahrungen und natürlich eine Rezeptions- und Tanzgeschichte, die ebenso reflektiert werden muss. Einmal wird sie von elf Männern herumgewirbelt, ein anderes Mal tanzen ein Paar in Jeans, ein Paar in klassischer Spitze und eines in retro-futuristischen Ganzkörperanzügen nebeneinander, alle auf der Suche nach ihrer Giselle. Poetische Suchen in bisweilen überbordender Kleinteiligkeit und bisweilen sogar vordergründig politisch. In schönster Agitprop-Manier formieren die Tanzenden sich mit T-Shirts, auf denen jeweils ein Buchstabe steht zu Losungen wie „Female“, „Angst“, „Seele“, „Chance“, „Du fehlst mir“ oder „Stop Femicide“. Hinzu kommt das Verlesen von Statistiken zur Ungleichheit von Frauen durch Mitglieder von Sjaella. Dabei verschwinden auch die Geschlechtergrenzen in den Kostümen (und der Bühne) von Paul Zoller durch klares Crossdressing. Die deutliche Botschaft: „Wir sind alle Giselle!“
Schröder setzt vor allem auf Gruppenarrangements, lässt sein Ensemble den Raum fluten und in Wellen durchmessen. Dies gilt besonders für den zweiten Teil, der im Gegensatz zur Tradition des weißen Aktes komplett in schwarz getanzt wird. Hier sorgt auch die Bühne für spektakuläre Momente, wenn eine schwebende Nebelwolke nach unten gefahren wird und sich über die Willis, dieses vielköpfige Biest, mit ihren bisweilen groben Bewegungen ergießt. Das Sjeaella-Sextett darf hier zunächst als Engel agieren, gegen Ende wird es in schwebenden weißen Kleidern gen Bühnenhimmel entschweben. So ein bisschen weißer Akt ist es dann am Ende doch noch, auch wenn das die Ballett-Purist*innen anders sehen dürften.
Mario Schröders Abschied
Für Mario Schröder ist diese „Giselle“ auch ein Abschied – er verlässt das Leipziger Ballett am Ende der Spielzeit nicht ganz freiwillig (siehe dazu auch das Interview des Monats) – und er geht mit einem Knall. Noch einmal zeigt er mit Bravour seine Art von Ballett, seine Fusion von alter und neuer Musik und seine Vorstellung der Formsprache eines zeitgemäßen Ballettensembles. Vor großen Namen der Balletttradition lässt er sich da nicht aufhalten, sondern entwickelt Althergebrachtes konsequent weiter. Nach dieser „Giselle“ freut man sich auf ein Widersehen unter der neuen Leitung von Rémy Fichet. Der zeigt dann beim Leipziger Ballettfestival „Leipzig Tanzt“, wie seine kuratorische Vision aussehen wird.
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