Bettina Masuch bleibt am tanzhaus nrw
Der Vertrag von Bettina Masuch wird um 18 Monate verlängert. Sie bleibt somit bis Ende der Spielzeit 2021/22 Intendantin des Tanzhaus NRW in Düsseldorf.
Von Svenja Hoffeller
„Can I come in?“ Die Frage der Sängerin Shelly Quest bringt schlagartig Stille und Ernst in eine vorher wuselig lebhafte Szene, die an ein Markttreiben an einem heißen Tag erinnert. Bereits beim Betreten des Zuschauerraums wird das Publikum von acht Tänzer*innen und zwei Musiker*innen aus dem Senegal, Frankreich und Deutschland begrüßt. Während nun alle nach und nach ihre Plätze einnehmen, bewegen sich die Tänzer*innen aufgeregt zwischen den Reihen im Rhythmus des Hip-Hop-Gesangs von Shelly Quest. Sie rufen oder singen Wörter ihres Textes mit, fordern teilweise etwas übertrieben Interaktion ein und tauschen Smalltalk mit einzelnen Personen aus. Wir sollen uns als Gäst*innen willkommen fühlen, bis die Frage auftaucht, ob auch wir bereit wären, unsere Tür zu öffnen: „Can I come in?“
Die Atmung als Sound
Im Hintergrund hängt ein riesengroßer farbig gemusterter Teppich, der sich von der Rückwand über den Boden bis zum vorderen Bühnenrand erstreckt. Links daneben steht ein Schlagzeug. Das Licht auf der Bühne ist recht hell und scheint wie eine aufgehende Sonne leicht ins Publikum. Die Bewegungen der Gruppe wirken, angetrieben vom Groove der Musik des senegalesischen Kora-Spielers und Perkussionisten Tarang Cissokho, zunächst rhythmisch und tänzelnd. Dann wird ein Paar raumgreifender, setzt die Schritte schneller und unkontrolliert. Sie rennen kraftvoll, taumeln, als ob sie von etwas angestoßen wurden, drehen sich, springen, finden zueinander und trennen sich. Assoziationen von Ritualen und urbanen Tanzformen schwingen hier mit. Schließlich bleiben sie schwer atmend in der Mitte stehen. Ihr Ringen nach Luft überträgt sich auf den ganzen Oberkörper, der sich wie in Wellen auf und ab bewegt. Die anderen nehmen diese Bewegung auf. Die Körperlichkeit des gemeinsamen Atmens wird zu einem Sound, der die Gruppe vereint.
Was bedeutet es, jemanden einzuladen?
Die deutsche Choreografin und Regisseurin Stephanie Thiersch und die südafrikanisch-belgische Choreografin Alesandra Seutin befragen mit ihrem Ensemble in „UNTIL THE BEGINNINGS“ das Wesen der Gastfreundschaft. Alesandra Seutin ist künstlerische Ko-Leiterin der von Germaine Acogny 1995 gegründeten École des Sables, des internationalen Zentrums für traditionellen und zeitgenössischen afrikanischen Tanz in Praxis und Forschung im Senegal. Stephanie Thiersch arbeitet mit ihrer etablierten Company MOUVOIR mit Sitz in Köln an den Grenzen zur interdisziplinären Bewegungsforschung und beschäftigt sich schon seit mehreren Jahren mit dem Gastgeben als choreografische Methode.
Begonnen hatte die Zusammenarbeit von Seutin und Thiersch 2023 bei einem Projekt am Theater Bielefeld. Motiviert durch diese Erfahrung, gelang es den Choreografinnen nun, mit Performer*innen aus Senegal und Europa eine große gemeinsame Produktion auf die Beine zu stellen. Ein Impuls für „UNTIL THE BEGINNINGS“ war die Beobachtung der zunehmenden Verweigerung, ja, wie Thiersch und Seutin es nennen: „Kriminalisierung“ gastfreundlicher Haltungen infolge rechtsgerichteter Tendenzen. Eine weitere Inspiration bildeten Texte von Jacques Derrida, in denen der Philosoph sich in den 1990er Jahren fragte, wer wen unter welchen Bedingungen bei sich empfängt und wie sich bedingte und unbedingte Gastfreundschaft voneinander unterscheiden. So lässt sich das Stück als tänzerisches Nachdenken über die sogenannte „Willkommenskultur“ lesen: Inwieweit öffne ich mein Haus für andere? Wie würde ich empfangen werden wollen? Was bedeutet es, jemanden einzuladen? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für mich und für die oder den andere(n)?
Kommentar zur Fast Fashion
Mehr als in der Choreografie findet sich dieses Thema beinah in den Texten der „Raptivistin“ Shelly Quest wieder. Ihre Songs fragen nach Großzügigkeit, Vertrauen, Verantwortung und Freiheit. Überhaupt ist für den Tanz in „UNTIL THE BEGINNINGS“ die Live-Musik unverzichtbar. Beide begegnen sich immer wieder in Frage-Antwort-Sequenzen, greifen netzwerkartig ineinander und ergänzen sich. Cissokho und Quest agieren oft mitten unter den Performer*innen und werden Teil der Choreografie - etwa, wenn die Tänzer*innen sie ganz nah bei ihnen in ihre Positionen mit eingliedern. Quest beeindruckt dabei besonders mit ihrer tiefen Stimme und im bodenlangen voluminösen Kleid, das in der Form an eine Adelige aus dem 19. Jahrhundert erinnert. Zusammengenäht aus unzähligen schwarzen Steppjacken trägt es wie die aus Einzelteilen von Jacken, Blusen oder Röcken zusammengesetzten restlichen Kostüme zu der dichten Atmosphäre der Performance bei. Gestaltet von Lauren Steel, wirken sie zugleich elegant und alltäglich, neu und gebraucht. Ein Kommentar zur Fast Fashion der westlichen Welt?
Bleibt die Frage, wie die einzelnen Künstler*innen mit ihren so verschiedenen Hintergründen zusammengearbeitet haben. Konnten sich die Performer*innen, Musiker*innen und Stückentwickler*innen annähern? Spielt es im Probenprozess eine Rolle, was Tanz in den jeweiligen Kulturen bedeutet? Der Kolonialismus hat schließlich nicht nur die Politik und Infrastrukturen geprägt, sondern auch, wie Menschen handeln, denken, sich bewegen und tanzen (können) und warum sie dies tun.
Die Performer*innen bilden auf der Bühne eine erstaunlich geschlossene Einheit, selbst wenn sie sich in ihren Bewegungsqualitäten unterscheiden. Gegen Ende bilden sie eine vertikale Linie, aus der nacheinander jede*r Einzelne hervortritt und eigene Sequenzen tanzt. Zeitversetzt ahmen die Restlichen die Bewegungen nach, so dass der Eindruck entsteht, als wüsste niemand vorher schon, was kommt. Die Bewegungen zeichnen sich durch einen Mix aus kräftigen und fließenden Folgen aus, die alle sehr geerdet und intensiv wirken. Es etabliert sich ein Groove und springt auf das Publikum über. Es gibt wunderschöne Momente, in denen die Bewegungen einer Ekstase gleichen und zu völliger Erschöpfung führen könnten, dennoch sind sie zugleich sanft, dynamisch variierend, zwischen Bodenrollen, Sprüngen und Drehungen wechselnd und vor allem laut und leise.
Die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit und deren Einfluss auf heutige Tänze und Bewegungen hat sicherlich eine zusätzliche Komplexität sowohl in die Kommunikation untereinander als auch in den Probenprozess und die Entwicklung des Stücks gebracht, welche im Ganzen noch nicht abgeschlossen ist.
Am Ende steht eine Aufführung, die durch ihre choreografische und musikalische Qualität besticht und tiefgehende Fragen zu Gastfreundschaft und kulturellem Austausch stellt. „UNTIL THE BEGINNINGS“ regt zum Nachdenken an: Was heißt es, Gast oder Gastgeber*in zu sein?
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
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