Lebendige Tanzmaschinen
Sacre meets Picasso beim neuen Mannheimer Tanzabend von Stephan Thoss
Die Rolle eines Ballettpianist kann man leicht als Künstlerauftrag zweiter Klasse einschätzen – mit großen Anforderungen an die Virtuosität, aber einem eher langweiligen Probenalltag und wenig Platz im Rampenlicht. Die Begegnung mit George Bailey, der über 40 Jahre lang Proben und Training des Stuttgarter Balletts am Flügel begleitet hat, räumt mit diesem Vorurteil gründlich auf, und mit ein paar anderen gleich mit.
Der aus einer Musikerdynastie in Denver stammende Bailey meistert bei seinem Abend im Mannheimer Tanzhaus den musikalischen Wechsel zwischen Jazz und Klassik genauso souverän wie einen bewussten, charmanten und souveränen Umgang mit seiner schwarzen Hautfarbe. Schon bei seinem Großvater, einem Violinist und Dirigent, gingen Jazz-Größen wie Duke Ellington ein und aus. Aber dessen Lebenstraum, in einem klassischen Orchester zu spielen, blieb unerfüllt. Erst sein Enkel schaffte es, als Künstler und Mensch in Augenhöhe anerkannt zu werden – ohne seine Identität einen Tag lang zu vergessen.
Zusammenarbeit mit John Cranko
Der legendäre John Cranko holte Bailey als Pianist nach Stuttgart und konnte die Entdeckung machen, dass er nicht nur einen Klavier-, sondern einen Choreografie-Begleiter angeheuert hatte. Baileys persönliche Klaviernoten sind randvoll gefüllt mit choreografischen Notizen; er besitzt die Fähigkeit, Bewegung auf hohem künstlerischem Niveau mitzudenken. So sah er es als Herausforderung an, das eigene Spiel bestmöglich an die individuellen Fähigkeiten, ja an die Tagesform der Tänzer*innen. Kein Wunder, dass sein Spiel ihnen Sicherheit schenkte – und dass Choreografen wie John Neumeier (dessen Stuttgarter Dauerbrenner „Kameliendame“ er einstudieren half) oder Maurice Béjart vorrangig mit ihm arbeiten wollten.
Seine außerordentliche Bühnenpräsenz brachte ihm auch kleine Bühnenrollen ein; dabei war er sich für keinen Verkleidungs-Spaß zu schade – im Gegenteil. Im Privatleben pflegte er den Ruf als Mann mit exquisitem, zugleich extravaganten Modegeschmack mit einer Vorliebe für die Signalfarbe Rot. Rote Schuhe sind sein Markenzeichen, und seinen roten Smoking trug er mit dem augenzwinkernden Wissen um seine so oder so auffallende Erscheinung
Erfahrungen mit Rassismus
Im Gespräch mit seiner Biografin der Mannheimer Tanzdramaturgin Susanne Wiedmann ging es auch um persönliche Erfahrungen mit Rassismus. Schließlich war das Aufwachsen des heute 81jährigen jeden Tag geprägt von den Alltagserfahrungen der Apartheid. In Stuttgart, so scheint es, hat Bailey sich als Mensch akzeptiert gefühlt, unabhängig von seiner Hautfarbe und einem offenen Bekenntnis zur Homosexualität. Nicht zuletzt machte ihn seine künstlerische Arbeit zum Millionär. Den politisch korrekten Anti-Rassismus wollte er sich nicht vorschreiben lassen. So schrieb er einen persönlichen Unterstützungsbrief an John Neumeier, als dieser sich mit Vorwürfen von rassistischen Stereotypen in einer „Othello“-Inszenierung konfrontiert sah.
Das alles konnte man erfahren in einer unterhaltsamen Mischung aus Lesung, Live-Gespräch und musikalischem Vortrag, erfahren. Die Mannheimer Tanzdramaturgin Susanne Wiedmann ist nicht nur mit Bailey befreundet, sondern hat 2021eine Biografie über ihn veröffentlicht, die gerade als Taschenbuch erschienen ist. So war die Veranstaltung im Mannheimer Tanzhaus ein Heimspiel der besonderen Art, bei dem am Ende das Publikum willig in die Rolle eines Gospel-Chors schlüpfte.
Annette Bopps Rezension von: Susanne Wiedmann: „Cranko, Haydée und ich – George Bailey“, 240 Seiten, 20,00 €
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