Mit dem Rücken erzählen
Michael Molnár ist gestorben
Tom Etchells, Künstlerischer Leiter der legendären, 1984 gegründeten britischen Performance-Gruppe Forced Entertainment, die Tanz-Theater-Geschichte schrieb, ließ die Erwartungen hochschrauben. Etchells zeichnet nicht nur für Choreografie und Bühne (zusammen mit Vlatka Horvat) für die Neukreation „Go With Your Heart“, sondern auch für Musikcollage und Komposition.
Er ließ, so ist zu erfahren, den 16 Tänzerinnen und Tänzern des Ballett Basel größtmögliche kreative Freiheit. In einem „kontinuierlichen Prozess von Wiederholung, Nachahmung, Anpassung und Modifikation“ waren die Tanzenden aufgefordert, jedwede Regeln der Tanzkunst zu brechen. Nun lautet ein geflügeltes Wort, dass Regeln nur gebrochen werden können, wenn man sie kennt. Tanzende kennen die Regeln des Tanzes, nicht unbedingt aber die der Choreografie, eine Kunst, für die es eigenes Wissen, Erfahrung, Talent und vieles mehr braucht.
Jede Vorstellung ist anders, die Tanzenden müssen jedes Mal von neuem schöpferisch tätig sein. Die Konzentration und Kraft für Kopf und Körper sind enorm. Außer dem Thema mit dem Herzen zu gehen und einem minimalistischen Bühnenbild von langen Vorhangstoffen, die die Bühne begrenzen und mal aufgezogen, mal heruntergelassen werden, haben die Tanzenden keinen ersichtlichen Input für ihre Bewegungskreationen. Dramaturgisch verleiht einzig die Musik mit ihrem pulsierenden Charakter der Aufführung etwas Abwechslung in der Dynamik.
„Go With Your Heart“ verzichtet sowohl auf eine Geschichte wie auf sicht- und spürbare Dramaturgie und Choreografie. Einzelne Moves werden von den Tänzer*innen aufgenommen und repetiert. Daraus entstehen Muster, die interpretiert und wieder aufgelöst werden. Diese „Zufälle“ beherrschen das Geschehen während der ganzen Performance, alle immer in Bewegung, beinahe atemlos, lange 90 Minuten lang. Die 16 Tänzerinnen und Tänzer des derzeitigen Basler Balletts zeigen angesichts der großen Herausforderung eine tolle Leistung, eine erstaunliche Bewegungsvielfalt und die Fähigkeit, aus einem „Nichts“ das Beste zu machen.
Everything goes
Tanz ist Bewegung in Zeit und Raum, Choreografie aber ist die Kunst, die Bewegungen in eine Schrift und in ein Konzept zu überführen. „Go With Your Heart“ lässt eine klare Handschrift vermissen. Bei einem „Everything goes“ entsteht keine Spannung, und es wirkt auf die Dauer ermüdend. Wenn eine künstlerische Vertiefung und dramaturgische Stringenz fehlen, wird ein Stück schnell mal beliebig. Die Un-Art, also Nicht-Kunst, den Tanzenden die Verantwortung zu übergeben, greift leider um sich. Gehen den „älteren Semestern“ wie Tim Etchells (Jahrgang 1962), Saburo Teshigawara (Jahrgang 1953) in Basel oder Kim Brandstrup (Jahrgang 1956) in Zürich die Ideen aus oder sind die heutigen Tänzer*innen einfach zu versiert für sie?
„Go With Your Heart“ ist übrigens der Titel eines (hörenswerten) Songs der Gruppe Fourplay aus dem Jahr 2000. Die Wege des Herzens kennen offenbar kein Copyright. Und welcher Art der Beitrag der kroatischen multiplen Künstlerin Vlatka Horvat am gemeinsamen Projekt ist, lässt sich nicht eruieren. Vielleicht lag es auch an einem schmalen Budget, dass es nicht für ein Mehr reichte bei dieser etwas bescheidenen Produktion
Die interimistische Leitung des Ballett Basel, Adolphe Binder und ihr Stellvertreter und choreografischer Assistent Tilman O’Donnell, versucht, dem Publikum neue Sichtweisen zu vermitteln. Das ist legitim und erstrebenswert, nur stellt sich die Frage, ob das Theater Basel, mit seiner langen Ballett- und Tanztradition, der richtige Ort dafür ist für ein „Experiment“, um die Performance als solches zu bezeichnen. Es gehört wohl eher in die freie Szene, wo die kreativen Impulse meist herkommen. Muss das etablierte Theater, generell gesagt, die Strömungen und kreativen Impulse der wenig subventionierten Freien gleich übernehmen? In Basel jedenfalls entsteht der Eindruck, dass das Basler Publikum sich langsam wieder nach einem Gesicht, einer verantwortlichen choreografischen Leitung sehnt. So wie es ab nächster Saison mit der Intendanz von Marco Goecke geschehen wird. Mit einem hoffentlich angemessenen Budget.
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