Almdudler-Avantgarde

Die Gruppe Neuer Tanz tanzt „Giselle“ – oder eben nicht

Frankfurt, 14/01/2000

Guckkastenbühne, Orchestervorspiel, und auf dem Programmzettel steht „Giselle“. So weit, so nett. Doch nicht überall, wo „Giselle“ drauf steht, ist auch ein klassisches Handlungsballett drin. Das war in diesem Fall aber auch nicht anders zu erwarten. Denn diese „Giselle“ ist die von VA Wölfl und der Gruppe Neuer Tanz. Und bei dem Düsseldorfer Künstlerkollektiv gehört es zum guten Ton, dass die Titel der Programme nicht unbedingt etwas mit deren Inhalt zu tun haben müssen – und dass das, was unter dem Label „Neuer Tanz“ daherkommt, nicht einmal Tanz sein muss. Oder besser: Nicht Tanz sein kann, weil VA Wölfl nun einmal Bildender Künstler und nicht Choreograf ist. Der (Tanz-)Karriere schadet das übrigens nicht. Raumkunst und -installationen mit Tänzern zu garnieren und dann als Tanz auszugeben –  mehr Chuzpe braucht es nicht, um manchen Tanzveranstaltern und -kritikern hierzulande zu imponieren …

Weniger dem Publikum. Das sah dem anderthalbstündigen Treiben der Düsseldorfer Neuen Tänzer bei ihrer Premiere im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm herzlich gelangweilt zu. War das Foyer vor dem Beginn noch von Musik aus dem ersten und in der Pause aus dem zweiten Akt von Adolphe Adams „Giselle“ erfüllt, so begnügt sich die eigentliche Aufführung mit den Geräuschen, die sie selbst produziert, wenn die vier Damen und ein Herr zunächst in Kreisformation im Halbdunkel Schuhplatteln. Richtig gelesen: Schuhplatteln! Zwar tragen sie die übliche „Neuer Tanz“-Uniform aus grauem Zwirn und glänzend schwarzem Schuhleder und sehen darin, wie in allen vorhergegangenen Wölfl-Stücken auch, nach den Schickimicki-Vernissage-Besuchern ihrer eigenen Ausstellung aus, aber das hindert sie nicht, durch das ritualisierte Zusammenführen von Handflächen und Schuhsohlen gemeinschaftlich Töne zu erzeugen. Gelegentlich jodeln sie sogar dazu, und wohl um die urige Almdudler-Atmosphäre perfekt zu machen, zeigt uns die Damenviererbande mit Herr dann noch einen ziemlich langen, ziemlich filmreifen Box-Stunt in Zeitlupe. Auf dem Land geht‘s eben rau zu.

Umso friedlicher gibt sich der zweite Teil, denn da stehen die Akteure nur rum – ziemlich lange, ziemlich unbeweglich und in penetrantes grelles Licht getaucht. So stehen sie und stehen sie, werfen sich nur hin und wieder einen Blick zu und treten bestenfalls mal von einem Fuß auf den anderen. Dann, auf einmal, machen drei von ihnen, die mit den Armen im Rücken verschränkt und mit halb gesenktem Kopf wie geklonte Büroyuppies während einer Standpauke ihres Chefs in einer Reihe stehen, plötzlich und gleichzeitig einen koordinierten, gemeinsamen Schritt nach vorn. Einen einzigen Schritt nur, aber immerhin: In diesem Moment hat sich VA Wölfls „Giselle“ tatsächlich bewegt – choreografisch bewegt.

Bewegung im Halbdunkel – wie im ersten Teil dieser Aufführung, die mit Geräuschen verbunden ist, schärft die Wahrnehmung des Ohres, und Bewegung in den Stillstand hinein, so dürftig sie auch sein mag, hat das Zeug zur Sensation. Das ist, man staunt, erstmals ein genuin choreografischer Ansatz in einem Stück von VA Wölfl und der Gruppe Neuer Tanz. Dennoch sollten sie den Untertitel ihrer „Giselle“ ändern, der da lautet: „In darkness let me dwell“. Der ist zwar nicht falsch, aber passender wäre: „Dünne Bretter lasst mich bohren!“ Denn mit solchen Erkenntnissen von Bewegung und Dunkel und Stillstand, deren Verkündern man hierzulande noch gerne das Etikett „Avantgarde“ auf die Brust klebt, haben sich Amerikas Tanz-Postmoderne schon in den Sechzigern und Siebzigern befasst. Da sieht man mal, wie weit es der Neue Tanz in Deutschland schon gebracht hat!

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