Bachs „Johannes-Passion“, getanzt in der Stadtkirche

oe
Karlsruhe, 29/03/2002

Sie könnte Karlsruhes jährliche Oster-Attraktion werden – quasi als lokales Pendant zum Salzburger „Jedermann“: Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“, eine Gemeinschaftsproduktion der Evangelischen Stadtkirche Karlsruhe und des Badischen Staatstheaters unter der musikalischen Leitung von Christian-Markus Raiser, in der Choreografie, Inszenierung, Konzeption, Ausstattung und Lichtregie von Antonio Gomes, mit dem Bachchor Karlsruhe und der Camerata 2000 und mit dem Ballett und der Statisterie des Badischen Staatstheaters samt Gesangs- und Tanzsolisten.

Es hat andere szenische Darstellungen der „Johannes-Passion“ gegeben, die als die dramatischste der bachschen Passionen gilt, etwa von Bernd Schindowski, doch ich bezweifle, dass je eine so rundum gelungene Inszenierung des Werkes darunter war, von solcher Würde, Größe und theatralischer Überzeugungskraft, wie sie jetzt Gomes in der Karlsruher Stadtkirche am Markt gelungen ist.

Gomes ist Brasilianer, 1956 in Sao Paulo geboren und hat bei uns bereits bei Richard Cragun in Berlin, bei Pierre Wyss in Braunschweig und zuletzt „Sacre du printemps“ vor ein paar Wochen in Mannheim choreografiert. Er ist ein Mann, der in jeder Beziehung in großen Dimensionen denkt, ein ausgesprochenes Flair für Dramaturgie hat, mit Massen sowohl wie mit kleineren Gruppen umgehen und individuelle Charaktere profilieren kann.

In den Altarraum der Kirche hat er zwei Spielebenen gebaut und darüber eine riesige Projektionsfläche gehängt, auf der das Publikum auch von sichtbehinderten Plätzen aus das Geschehen detailliert und in aller Schärfe verfolgen kann. Die dekorativen Elemente sind auf ein Minimum beschränkt, dafür dominieren kraftvolle Farbkontraste. Die Choräle und Chöre sind dem Corps vorbehalten, die solistischen Partien werden von Sängern gesungen und von Tänzern getanzt. Das Vokabular ist modern, holzschnittartig markant, energiegeladen und mit symbolischen Gesten angereichert. Er hält sich eng an die Stationen der bachschen Nummernfolge, die er aber weniger illustriert, als dass er sie tänzerisch abstrahiert: so gewinnen seine tänzerischen Bilder Wucht und Größe.

Er scheint über unerschöpfliche Atemreserven zu verfügen, denn er hält die Spannung, mit nur einer kurzen Zäsur, über zweieinhalb Stunden hinweg. Der nahe liegende Vergleich ist natürlich jener mit Neumeiers „Matthäus-Passion“, die sich direkter an die Textvorlage hält und um eine psychologisierende Darstellung des Geschehens bemüht, während Gomes eher ein Alfresco-Choreograf ist, härter, näher am Hier und Heute. Bei ihm empfinden wir die Leidensgeschichte Christi als eine sehr heutige, uns unmittelbar selbst betreffende Passion.

Es ist eine großartige Aufführung (die ich mir allerdings, von einem Dirigenten à la Harnoncourt und mit dessen Instrumental- und Gesangsensembles bestritten, musikalisch noch eindringlicher, packender vorstellen kann), von allen Beteiligten mit totalem Engagement und großem Ernst ausgeführt. Für die Tänzer der Wyss-Kompanie könnte sie so etwas wie einen Individuationsprozess darstellen – auf dem Weg zu einer Identitätsfindung. Drei Mal in der großen Kirche total ausverkauft, gibt sie Anlass zu der Hoffnung, dass einige der sichtlich ergriffenen Zuhörer/Zuschauer den Weg auch in die Ballettvorstellungen des Theaters finden werden.

Wie gesagt: ich könnte sie mir auch als alljährlich wiederkehrendes Ereignis im Kulturkalender Karlsruhes vorstellen – möglicherweise ja auch im jährlichen Wechsel mit Bachs „Matthäus-Passion“. Gomes ist ein tanztheatralischer Visionär, dem ich auch das zutrauen würde!

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern