Ein Triumph der Jugend
John Neumeier eröffnet die 48. Hamburger Ballett-Tage mit „Romeo und Julia“
Nach seiner „Papierform“ hätte es ein über die Maßen interessanter Abend werden müssen. Das altehrwürdige Litauische Nationalballett aus Vilnius tanzt bei den Ludwigsburger Festspielen „Romeo und Julia“ in der Choreografie des einstigen Bolschoi-Stars und jetzigen Chefs des Moskauer Bolschoi-Theaters Wladimir Wassiliew. Am Pult der Litauischen Nationalphilharmonie Mstislaw Rostropowitsch, der Sergej Prokofjews Musik endlich einmal so dirigieren wollte, wie sie ihm der Komponist in langen Gesprächen erläutert hatte. Und in der Tat hat sich Prokofjews Auffassung wesentlich von dem unterschieden, was heute auf Ballettbühnen zu hören ist. Das lässt sich an der Einspielung der beiden Romeo-und-Julia-Suiten unter Rostropowitschs Leitung aus dem Jahre 1983 leicht nachweisen.
Wassiliew hat für seine Inszenierung eine einzige originelle Idee gehabt. Er platziert die Musiker in historischen Gewändern mitten auf die Bühne. Hinter ihm ragt ein stilisiertes Edelholz-Verona mit einer kleineren Tanzfläche auf. Vor ihm wird auf dem überbauten, großen Orchestergraben ebenfalls getanzt. Das Orchester ist durch zwei breite Gänge geteilt, die den Zugang zur hinteren und vorderen Bühne ermöglichen.
Doch was anfangs einleuchtet und sogar Eindruck macht, dass zum Beispiel die entscheidenden Szenen dicht am Publikum gezeigt, während sie hinten vom Corps, als sei es ein antiker Chor, sozusagen kommentiert werden, das verwässert alsbald zu einem permanenten Hin und Her, das der Handlung zu folgen nicht eben leicht macht. Wassiliews Choreografie ist überdies ein einziges Jammertal des Unvermögens, des hilf- und planlosen Zitierens einstigen sowjetischen Tanzgehabes, dessen pathetische, unkünstlerische Wucht den meisten Fans in Russland noch heute als Inbegriff wahrer Ballettkultur gilt.
Und so springen die litauischen Tänzer denn, die meisten im fortgeschrittenen Alter und technisch nicht gerade bewundernswert, in ihren dünnen Kostümen munter und hölzern von links nach rechts und im Kreis, zu oft übrigens mit den Rücken zum Saal, machen verlegen bedeutungsschwere Gesichter, die an Laientheater erinnern und wissen im Grunde nichts mit sich anzufangen. Wassiliew kann weder eine Handlung entwickeln, noch Personen charakterisieren. Wer Mercutio, wer Benvolio ist, das lässt nur der Fortgang des Stücks erkennen. Tybalt ist selbstverständlich durch seinen rabenschwarzen Habit zu identifizieren. Einziger Lichtblick in dieser tänzerischen und choreografischen Belanglosigkeit ist die Julia von Natalia Ledovskaya, eine flinke, zarte Ballerina mit einem beredten Gesicht, die ohne technische Probleme wie ein frischer Wind durch das tranige Geschehen wirbelt, als sei sie aus einem anderen Ballett hereingeschneit. Ihr Romeo Georgi Smilevski, ein unbeholfenes Weichei, hat dieses Geschenk gar nicht verdient.
Und mittendrin Mstislaw Rostropowitsch im Smoking, der mal hierhin und mal dorthin dirigiert und tatsächlich konsequent Prokofjew durchsetzt, mit seinen verschleppten Tempi, den überraschenden Phasenverschiebungen und vor allem, am deutlichsten zu erkennen, dem geradezu lähmend langsamen Faschingstanz, der, so gespielt, in Stuttgart ein Chaos auf der Bühne hervorrufen würde. Das im übrigen vorzügliche Orchester hatte diesmal allerdings zuweilen geringe Probleme beim Blech. Wer den Abend mit geschlossenen Augen erlebt hat, der ist von ihm vermutlich sehr angetan gewesen.
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