Ansatzweise abstrakt

Das „Portrait John Neumeier“ beim Bayerischen Staatsballett

München, 23/03/2003

So dürfte heute keiner mehr anfangen. Würde einer unserer Jungchoreografen so antiquiert und harmlos, so ältlich und zerbröselt arbeiten, er wäre verloren in der schnittigen, schnellen Tanzwelt von heute. Der junge John Neumeier versuchte sich 1972 an einem Klavier-Ballett im Stil von Crankos „Brouillards“ oder Jerome Robbins' „Dances at a Gathering“ - sein „Dämmern“ zu Etuden und Préludes von Alexander Skrjabin aber tröpfelt vor sich hin, kondensiert nie zu symbolischen Bildern oder philosophischen Miniaturen. Kaum zu glauben, dass Hans van Manen exakt zur gleichen Zeit und zum gleichen Thema den um Lichtjahre kühneren Pas de deux „Twilight“ schuf.

Zum Auftakt der Münchner Ballettwoche stellte der Hamburger Ballettchef ein „Portrait John Neumeier“ für das Bayerische Staatsballett zusammen, wo sein ehemaliger Solist Ivan Liska bekanntlich Ballettdirektor ist. Und natürlich reiht der Erzähler Neumeier für seine getanzte Autobiografie nicht einfach drei Ballette nebeneinander auf, sondern er lässt einen vermummten Clochard mit Mantel, Hut und weißer Blume durch den gesamten Abend geistern. Er (später sie) stammt eigentlich aus dem mittleren Ballett „In the Blue Garden“, das 1994 als Teil einer Ravel-Trilogie für das Hamburger Ballett zu „Ma Mère L'Oye“ entstand. Es deutet Charaktere, Handlung, Geschichten an und bleibt doch stets unbefriedigend im Vagen, weil Neumeier hier die Impression über das Verstehen stellt. Ein Segelschiff setzt Passagiere ab - ein Mädchen, eine Frau, einen Blinden und einen Fremden. Sie sehnen sich, knüpfen Beziehungen, essen Äpfel, steigen auf Tische und reiben sich an der zentralen Figur „Er“.

Die „Jupiter-Sinfonie“ war 1991 der letzte Teil von Neumeiers Hamburger Abendfüller „Fenster zu Mozart“. Sie ist ein handlungsloses, aber bestimmt kein konzertantes Ballett - Neumeier sucht keine Strukturen in der Musik sichtbar zu machen (wie es Balanchine oder zum Beispiel auch Uwe Scholz tun), sondern er arbeitet intuitiv und impressionistisch, bis hin zur schieren Unmusikalität, wenn Mozarts C-Dur-Jubel gleich im Eröffnungssatz als reine Begleitmusik zum langwierigen Bau von statischen Menschenskulpturen abläuft. Auch all das spätere Rennen und Schreiten, das Bockspringen und Flieger-Spielen wirkt so gar nicht durchdrungen vom feinen, hohen Mozartschen Menschheitsgeiste. Die Choreografie bleibt zu weich, zu beiläufig, erlangt nie die klassizistische Klarheit und Brillanz eines Balanchine. Das geometrische Ornament und die reine, bedeutungslose, schöne Linie sind absolut nicht Neumeiers Fall. Selbst der Humor (den er zweifellos hat) gelingt ihm nur, wenn er ihn in eine Handlung einbetten kann. Mag sein, dass der seltsam persönlichkeits- und begeisterungslose Auftritt der Münchner Kompanie zum müden Eindruck dieses Abends beiträgt, durch den einzig Maria Eichwald wie ein lieblicher Schimmer der Hoffnung weht. Wie einst Gigi Hyatt erscheint sie hier als eine dieser Neumeierschen Mädchen-Figuren, deren bloßes Lächeln ein abstraktes Ballett zum enigmatischen Kunstwerk macht. Die zumindest geistig schon fast wieder entschwundene Lucia Lacarra dagegen absolviert ein Pflichtprogramm, zelebriert all ihre Bewegungen mit der technischen Vollendung einer großen Ballerina und bleibt doch offensichtlich fremd in Neumeiers Stil.

Vielleicht wirken dessen Ballette, zumal solche ansatzweise abstrakten Werke, wirklich nur dann, wenn sie mit der ganz besonderen Innigkeit seiner Hamburger Interpreten getanzt werden.
Vielleicht rührt die Enttäuschung einfach daher, dass dieser schwache Abend vom kreativsten aller Ballett-Theatraliker stammen soll, der die elementaren Gefühlsstürme der „Kameliendame“ choreografiert hat und die alles verzeihende Menschlichkeit des „Sommernachtstraums“, der den Wahnsinn in Waslaw Nijinskys Kopf auf der Bühne so unendlich traurig sichtbar gemacht hat. Vielleicht ist John Neumeier, der Dramatiker, einfach ein bisschen genialer als John Neumeier, der Choreograf.

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