Neues von John Neumeier in Baden-Baden und Hamburg
Der Choreograf unterzeichnet Kuratoren-Vertrag und gewährt Namensrechte bis 2030. Das Festival 2023 startet mit „Dona Nobis Pacem“
„Ich kann eins versprechen: jede Erwartung, die Sie auf „Tod in Venedig“ haben, werden Sie wahrscheinlich nicht sehen“. Selbst vier Tage vor Premiere seines neuen Werks stellt John Neumeier mitten in seiner Ballettwerkstatt noch Schritte um, bringt neue Ideen ein und verändert seine Choreografie. Drei Voraufführungen von „Tod in Venedig. Ein Totentanz von John Neumeier frei nach der Novelle von Thomas Mann“ finden ab Freitag im Baden-Badener Festspielhaus statt, für die Hamburger Premiere am 7.12. sind laut Neumeier aber danach noch Änderungen am Stück zu erwarten.
Bereits mit 15 Jahren hat der amerikanische Choreograf die Novelle von Thomas Mann gelesen, und natürlich wurde auch seine Rezeption des Stoffs stark durch Luchino Viscontis Verfilmung mit Dirk Bogarde und dem berühmten Mahler-Adagietto geprägt. Die emotionale Richtung des Stücks sei vielleicht sogar eher durch Mahler geprägt als durch Thomas Mann, so Neumeier. Schon beim ersten Lesen hätte er Tadzio - den schönen blonden Jungen, dem Aschenbach verfällt – nie als wirklichen Menschen, sondern als mythische Figur gesehen. Jetzt stellt Tadzio für ihn den Ansatzpunkt dar, die mythische Ebene in diesem Stoff zu finden.
Anders als manche Literaturwissenschaftler glaubt John Neumeier nicht, dass Gustav Mahler das Hauptmodell für Aschenbach ist. Bei Thomas Mann ist er Schriftsteller, bei Visconti war er Komponist, und bei John Neumeier ist er – was sonst - Choreograf. „Ein schöpferischer Mensch“ müsse Aschenbach sein, egal in welcher Kunst, das sei das Wichtige. Und wie bei Thomas Mann ist Aschenbach kein Bohemien oder Avantgardist, sondern ein arrivierter, allseits geachteter Künstler – ein Meisterchoreograf, der an einem Opus magnum arbeitet: einem Ballett über Friedrich den Großen. Ein Ballett im Ballett also, wie schon so oft in Neumeiers Werk.
Der Hamburger Ballettchef setzte sich selbst die Aufgabe, diese höchst emotionale Geschichte zu klarer, nüchterner Musik zu vertanzen – seine erste Musikwahl war gar Bachs „Kunst der Fuge“, aber von diesem „unantastbaren Kunstwerk“ sei er dann wieder abgekommen. Jetzt erklingt Bachs „Musikalisches Opfer“, dessen Fugenthema, wie passend, ausgerechnet von Friedrich dem Großen stammt. Aschenbach, der von Lloyd Riggins getanzt wird, ist ein apollinisch denkender, intellektueller Choreograf, kein Mann des „großen Wurfs“, sondern ein konstruierender, ausklügelnder Künstler, dem Gefühl und Wärme fehlen; ein Künstler, der mit Neumeiers Worten „arbeitet wie Thomas Mann“.
Als das Ballett beginnt, zweifelt Aschenbach an seinen Fähigkeiten, das Friedrich-Ballett fertigzustellen. Die Zweifel werden bestärkt durch die merkwürdigen Figuren, denen er in Venedig begegnet - diese „Boten“, wie Neumeier sie nennt, werden von Jirí und Otto Bubenicek getanzt, die zusammen die Figur des „Wanderers“ darstellen. Und wer sich bei diesem Namen an Béjarts „Ring um den Ring“ erinnert fühlt, hat allen Grund dazu: bei Neumeier sitzt nicht nur Elisabeth Cooper am Piano, die für Béjart damals die Wagner-Klavier-Transkriptionen arrangiert hatte, sondern Neumeier hat ebenfalls die Idee übernommen, Wagner-Musik auf dem Klavier zu spielen. Denn als Gegenstück zum apollinischen (verschiedenartig instrumentierten) Bach erklingt der dionysische (aber nur auf dem Klavier gespielte) Wagner, den Neumeier für das wahre Vorbild von Aschenbach hält.
Der verführerische Tadzio ist in Baden-Baden mit dem zwanzigjährigen russischen Kompanie-Neuling Edvin Revazov besetzt, der neben blond und schön vor allem riesengroß ist, viel größer ist als Lloyd Riggins. Weil Aschenbach als Choreograf von der reinen Körperlichkeit nicht mehr so sehr fasziniert sein kann wie ein Schriftsteller, musste mit Neumeiers Worten „das Geheimnis dieser Figur aus der Normalität kommen, aus dem Unscheinbaren“. Der tanzende Tadzio und das Ballett über die Thomas Mannsche „Sympathie mit dem Abgrund“ sind ab Freitag in Baden-Baden zu sehen.
Weitere Informationen zum Stück und zu den Aufführungen unter www.festspielhaus.de & www.hamburgballet.de
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