Neues von John Neumeier in Baden-Baden und Hamburg
Der Choreograf unterzeichnet Kuratoren-Vertrag und gewährt Namensrechte bis 2030. Das Festival 2023 startet mit „Dona Nobis Pacem“
Keine Tauben, keine Erbsen, keine Kröpfchen und kein abgehackter Zeh – nicht mal den Schuh bringt der Prinz mit, als er schließlich zum Happy End sein Aschenputtel wiederfindet. John Neumeiers ernste, ja melancholische Fassung des Ballettklassikers „Cinderella“ war für drei Tage zu Gast in der hochkarätigen Ballettreihe des Festspielhauses Baden-Baden, zusammen mit dem im nahen Stuttgart ja wohlbekannten „Othello“ des Hamburger Choreografen.
Es gibt gute Gründe, warum Sergej Prokofjews zweite große Ballettmusik nicht annähernd so berühmt wurde wie seine „Romeo und Julia“-Partitur: Trotz des märchenhaften Inhalts klingt „Cinderella“ nicht sehr heiter, sondern als hätte sich die gedrückte Stimmung der Entstehungszeit im zweiten Weltkrieg auf die Musik gelegt. John Neumeier, der uns nach Kevin O'Days Stuttgarter „Hamlet“ wieder einmal als letzter Leuchtturm im unfallträchtigen Genre des Handlungsballetts erscheinen muss, will der gedämpften Musik gar kein possierliches Märchen abringen - wie so oft lauscht er ein bisschen tiefer hinein. Er streicht fast alle witzigen, parodistischen Aspekte des Librettos, lässt etwa die beiden Stiefschwestern nicht von Männern tanzen wie in der englischen Tradition. Stattdessen fügt er zwei sinfonische Dichtungen Prokofjews dazu, nennt das Ganze „A Cinderella Story“ und macht eine große, fast traurige Liebesgeschichte daraus.
Zwar greift seine 1992 entstandene Version Elemente der russischen Überlieferung des Aschenputtel-Stoffes auf, so die Orangen und die Rabenvögel, aber statt klischeehafter oder niedlicher Märchenfiguren agieren hier fühlende Menschen von heute. Cinderella ist ein viel zu ernstes, sensibles Mädchen, ihr Prinz ein Künstler, der sich nicht erst auf dem Ball in sie verliebt, sondern als er sie am Grab ihrer Mutter zeichnet. Diese wandelt als gütige Erinnerung durch Cinderellas Leben und ersetzt so die gute Fee, begleitet von vier virtuos herumspringenden Vogelgeistern. Man mag noch so viel Einwände gegen die allzu glatt gezeichnete Partygesellschaft oder die zwei Gramm Pathos zuviel vorbringen: Neumeier ist und bleibt der einzige Choreograf, der eine Geschichte dramaturgisch schlüssig in Bilder fassen kann, in eine durchgängige, verständliche Symbolik, wo alles aufgeht und nichts lose bleibt. Er allein scheint die Fähigkeit zu besitzen, unsere Blicke auf der weiten Bühne auf das wirklich Wichtige zu lenken, und sei es ein Gang über die Bühne oder ein schmerzvolles Lächeln – all das, was im Stuttgarter „Hamlet“ in der Dauerhektik untergeht.
Und er findet immer wieder die perfekten Interpreten für seine Geschichten, wie hier den lyrischen Alexandre Riabko als Prinz, Lloyd Riggins in Ivan Liškas Rolle als trauriger Vater und Silvia Azzoni als Cinderella, vielleicht schon ein wenig zu erwachsen und abgeklärt. Ausstattungs-Altmeister Jürgen Rose hat dem Hamburger Chefchoreografen weite Lichträume wie Gemälde geschaffen, abgetönt im träumerischen Blau der Mutter oder dem Blättergrün des Baumes, den Cinderella auf ihrem Grab pflanzt. Schon in der Woche zuvor hatte das „Othello“-Gastspiel der Hamburger mit der zarten Hélène Bouchet als Desdemona und dem unglaublich raffinierten Ivan Urban als Jago die Gelegenheit zum direkten Vergleich geboten: Bei aller dramatischen Gabe ihrer Stuttgarter Kollegen tanzen die Hamburger die Werke ihres Chefchoreografen immer noch ein bisschen intensiver, verstehen sie noch ein bisschen besser. Eine großartige Kompanie, hoffentlich nächstes Jahr wieder in Baden-Baden.
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