Neues von John Neumeier in Baden-Baden und Hamburg
Der Choreograf unterzeichnet Kuratoren-Vertrag und gewährt Namensrechte bis 2030. Das Festival 2023 startet mit „Dona Nobis Pacem“
Bei seinen Workshops in Hamburg ist John Neumeier ein volles Haus gewöhnt, aber über das reichlich gefüllte Baden-Badener Festspielhaus war er doch erstaunt. Unter dem Titel „Das wortlose Drama“ hatte der Hamburger Ballettchef dort am Sonntagmorgen schon zum zweiten Mal eine Ballettwerkstatt anberaumt, und das Publikum in der Kurstadt würde sich gerne daran gewöhnen, wie es scheint.
Nach einer kurzen, heftigen Verteidigungsrede für das Handlungsballett (das ja „besonders bei den Kritikern etwas Altmodisches“ sei) erzählte der Hamburger Ballettdirektor von seinem allerersten Werk „Haiku“, entstanden im Jahr 1967 bei den Stuttgarter Noverre-Abenden - und nannte es lächelnd „ein bisschen naiv, aber nicht schlecht“. Schon damals sei in der Figur der vor sich hin träumenden Japanerin, so der Hamburger Ballettchef, „der Samen von allem, was ich später gemacht habe“ zu erkennen gewesen: eine eher Ballett-untypische Figur (in diesem Fall die Tänzerin Marianne Kruuse, laut Neumeier ein „Anti-Ballerinentyp“), die Schilderung einer anderen, fremden Welt, und vor allem die Spiegelung von Außen- und Innenwelt.
Die Idee des Schattens, des Doppelgängers hat er dann in seinen Balletten immer wieder verwendet, zum Beispiel in „Illusionen wie Schwanensee“ oder ganz exzessiv in „Peer Gynt“ mit den sieben Aspekten der Hauptfigur. Oder auch in der Idee vom Theater auf dem Theater, wie in „Die Möwe“ und in „Kameliendame“. Beim Gespräch über die Dumas' Romanvorlage zu diesem Werk warnte der Hamburger Choreograf davor, ein Handlungsballett nach einer literarischen Vorlage als Ersatz für dieses Buch anzusehen (was man sich vielleicht bei seinem letzten Werk „Tod in Venedig“ besonders zu Herzen nehmen muss). Die Beispiele aus der „Kameliendame“ wurden von Anna Polikarpova und Lloyd Riggins in den beiden Hauptrollen sowie von Joëlle Boulogne und Alexandre Riabko als Manon Lescaut und des Grieux illustriert. Mit Szenen aus allen drei Akten zeigte Neumeier, wie sich Marguerite immer wieder in Manon spiegelt, wie die Theater-Kurtisane das ganze Stück über Marguerites Vergleichsfigur bleibt. Wenn Marguerite in ihren Gefühlsentscheidungen unsicher wird, dann sieht sie Manon vor sich, wenn sie zweifelt, dann träumt sie nachts von Manon. Das zunächst eher konventionelle, manierierte Tanzvokabular von Manon nähert sich immer weiter an den expressiven Stil Marguerites an, bis Marguerite sich kurz vor ihrem Tod vollkommen mit Manon identifiziert, in dem schönen Pas de trois der beiden Frauen mit des Grieux.
Die Choreografie zu „Préludes CV“, mit dem die Hamburger am Freitag ihr zweiwöchiges Gastspiel an der Oos eröffnet hatten, war in gewisser Weise eine Premiere für Neumeier, weil er zum ersten Mal allein von der Musik ausging. Immer wieder wurde in Äußerungen wie „das hat die Figur mir gesagt“ oder „die Beziehungen haben mir gesagt, wie ich weitermachen soll“ seine Inspiration aus dem Augenblick deutlich. Wie in einem Puzzle seien erst am Ende alle Teile zusammengekommen, die im Programmheft abgedruckte „Handlung“ ist erst nach dem Ballett entstanden. Die stärkste Inspiration für das Stück hätte ihm seine Kompanie gegeben, deshalb heißen die Figuren des Balletts nach den Tänzern, für die sie gemacht wurden, egal von wem sie nun getanzt werden (was es übrigens in Crankos „Initialen R.B.M.E“ auch schon gab). Neumeier erklärte, dass die Figur „Im'r da“ nicht etwa ein indischer Gott sei, sondern dass der Tänzer Yukichi Hattori bei den Proben zu diesem Werk einfach „immer da“ war, deshalb der Rollenname.
Der erste Probentag für dieses Werk im Februar 2003 war zugleich der erste Tag des Irakkriegs, und „die Vision der Menschen im Irak brauchte eine Verkörperung“ - das sei Hattori. Erhellende Worte zu einem hermetischen Ballett - aber manches davon hätten wir vielleicht gar nicht wissen wollen, manches davon entzauberte Szenen und Bilder, die als Tanz so viel mehr Bedeutungen hatten denn in der prosaischen Ausdeutung durch ihren Schöpfer. Dennoch: Wieder einmal kann man Neumeiers pädagogische Gabe nur bewundern - er spricht einfach, nachvollziehbar und meistens auch noch witzig, seine Aussagen werden durch ideal ausgewählte Beispiele illustriert, die Ballettwerkstatt bietet gleichermaßen etwas für Ballett-Anfänger und Fortgeschrittene. Dass die Begeisterung für sein eigenes Genie dabei manchmal mit dem Ballettschöpfer durchgeht, gehört bei einer solchen Gelegenheit vielleicht einfach dazu. Sonst würde uns auch etwas fehlen.
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