Christian Spuck: „Lulu. Eine Monstretragödie“

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Stuttgart, 05/12/2003

Geschafft! Der große, wohl entscheidende Karrieredurchbruch des Christian Spuck, Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts. Mit seiner „Lulu. Eine Monstretragödie“, Ballett in zwei Teilen frei nach Frank Wedekind, hat er sich eingereiht in die Stuttgarter Phalanx der dramatischen Handlungschoreografen im Gefolge des großen Noverre, als legitimer Nachfolger von John Cranko und John Neumeier. Der Mann kann erzählen, ganz konkret, und zwar mit rein tänzerischen Mitteln, ohne umständliche pantomimische Anleihen. Er kann dramatische Situationen suggerieren, kann (zumindest ansatzweise) Personen charakterisieren, kann große, raumerobernde Ensembles choreografieren, kann einem vielfach adaptierten literarischen Stoff ein neues, eigenwilliges Profil geben. Das mag alles nicht sonderlich fortschrittlich und innovativ klingen, beweist aber seine souveräne Handwerksbeherrschung – und die ist heute bekanntlich sehr, sehr selten geworden.

Mit seinem Dramaturgen Rüdiger Nolte zusammen hat er Wedekinds Stoff zu jenem Ursprung zurückgeführt – dahin, wo er herkommt: zum Theater des Grand Guignol der Vorstädte, des Jahrmarkts, des Vaudeville. Dabei hätte ich gern auf die Texteinlagen verzichtet. Zumal da sie wiederum in englischer Sprache dargeboten werden – was ich als eine Beleidigung des deutschsprachigen Stuttgarter Publikums empfinde. So pointiert sie auch von Eric Gauthier (als Dokumentarist) und Bridget Breiner (als Chansonette) serviert werden. Zustande gekommen ist so eine „Lulu“ als tragische Operette, sozusagen ein Ballettodram.

Wesentlichen Anteil daran hat die Musikauswahl: sehr viel Schostakowitsch (Filmmusiken und Ballettsuiten), Schönberg und Berg – alles sehr exakt die dramatische Situation evozierend – von James Tuggle mit fußkitzelndem Pep brillant aus dem Staatsorchester evoziert. Gleichwohl hätte ich mir zu Schönberg und Berg für den Berlin-Akt eher Kurt Weill gewünscht, für den Paris-Akt den Martinů der Exil-Jahre und für den London-Akt Ivor Novello, die den einzelnen Schauplätzen ein stimmigeres Lokalkolorit gegeben hätten. Aber das fehlt der ganzen Produktion – auch im Allerweltsbühnenbild von Dirk Becker, auch in den – durchaus schicken – Kostümen von Emma Ryott – und auch, leider, in der Choreografie von Spuck.

Durchaus die dramatische Situation verdichtend sind hingegen die Film- und Videosequenzen von Fabian Spuck und Walter Klein. Durchaus atemberaubend auch der choreodramatische Zugriff Spucks – in den zahlreichen, manchmal noch ein bisschen forciert originell wirkenden Pas-de-deux-Kombinationen, vor allem aber in den großen, süperb durchstrukturierten Corpsensembles. Das hat eine Wucht und einen eskalierenden Drive, fegt über die Bühne – das ist Stuttgarter Lawinen-Choreografie at its best (wie in Crankos „Romeo und Julia“, wie in Neumeiers erstem Satz von „Mahlers III.“). Was ich mir jetzt noch wünschte, ist eine Schärfung der individuellen Charakterprofile – hier in den Rollen des Malers (Jorge Nozal), des Dr. Schön (Ivan Gil Ortega), des Alwa (Marijn Rademaker) und der beiden Londoner Freier (Damiano Pettenella und Dimitri Magitov) – so fabelhaft sie auch in Stuttgart getanzt werden.

Dass er das Zeug zu einem individuellen choreografischen Charakterporträtisten hat, beweist Spuck an der Zeichnung der Rollen von Lulu und der Gräfin Geschwitz, von Schigolch und Jack the Ripper – vielleicht sollte er sich mal als Regieassistent bei Jossi Wieler verdingen. Alicia Amatriain ist eine hinreißende, ungemein ausdrucksvielseitige Lulu: ein kindlich naives Biest à la Lolita und eine durchtriebene Schlange – und doch ist alles, was sie tut von einem Air weltmüder Melancholie umgeben. Die ist bei Bridget Breiners Gräfin Geschwitz die sich hier auch als Diseuse bewährt, ins Tragische gesteigert, in eine verzehrende, in ihrem Innern zehrende Frustration.

Den Charakter von Eric Gauthiers Schigolch kann ich nicht deuten – er wirkt hier eher wie ein heruntergekommener Bruder von Lulu, tanzt wie ein Besessener und ist von einer geradezu explodierenden dramatischen Präsenz. Einen ausgesprochenen He-Man vom Typ Schwarzenegger verkörpert Jason Reilly (obgleich ich mir ihn nun wirklich nicht als Governor von Kalifornien vorstellen kann). Zu ganz großem Charakter-Format läuft Jirí Jelinek als Jack the Ripper auf, ein Mystery Man als Todesbote. Was für ein Ensemble – keine andere Kompanie bei uns tanzt mit einer solchen Attacke, mit einer solchen animalischen Lust, einem solchen Elan dansant! Was für ein Ballettknüller! Was für eine Lust, in einer Stadt zu leben, die eine solche Ballettkompanie ihr eigen nennt!

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