„Lulu, Eine Monstretragödie“, neubesetzt

oe
Stuttgart, 22/12/2003

Die vierte Vorstellung von Christian Spucks neuer „Lulu“, in zahlreichen Rollen neu besetzt. Ein volles Haus, auffallend wenig Zwischenbeifall. Eine Produktion, die man sich gern ein zweites Mal ansieht. Fulminant der Beginn mit dem großen Solo Schigolchs, den Eric Gauthier auch in dieser Besetzung mit explosiver Bravour tanzt – die beste, interessanteste Solochoreografie des ganzen Abends. Ganz neu für Spuck die rasanten großen Ensembles, dynamisiert durch die Musik Schostakowitschs: der reich strukturierte erste Auftritt der vier mal drei Männer, später dann das parzenhafte Mysterioso-Entrée der Frauen zu Beginn des zweiten Aktes.

Unzulänglich die Charakterisierung der einzelnen Solorollen, die alle brillant getanzt werden, denen aber nur Jiri Jelinek als Dr. Schön (albern dieser Rückgriff auf Namen der Erstfassung – was soll uns dieser Dr. Franz Schöning?) und die wie eine zugespitzte Vertikale alle überragende Diana Martinez Morales als Gräfin Geschwitz persönliche Kontur abgewinnen. Jelinek schafft das auch Kraft seiner Persönlichkeit bei den banalsten Choreografien (als Jack the Ripper war er in der Erstbesetzung der Todesengel, der aus einer anderen Welt kommt – an diesem Abend muss man dreimal hingucken, bis man kapiert, dass Ivan Gil Ortega Jack the Ripper tanzt). Das schafft sonst nur noch Jason Reilly als Rodrigo (wie schon bei der Premiere) – am elektrisierendsten in seinem funkenstiebenden Duo mit Martinez.

Die anderen tanzen eher Rollenstenogramme als individuelle Charaktere – Alexander Zaitsev als Maler, Evan McKie als Alwa. Als Lulu ist Katja Wünsche ein total anderer Typ als Alicia Amatriain (immer muss ich mich bei ihr vergewissern, ob ich ihren Namen richtig geschrieben habe) – weniger glamourös, auch weniger charismatisch – nie käme man bei ihr auf die Idee, sie eine Baby Doll oder einen Monroe-Klon zu nennen. Wünsche ist humaner, wärmer, weniger puppenhaft. Ihr Tanz ist gerundeter, fließender – ich möchte nicht sagen elementarer, eher natürlicher, nicht so pointiert bewusst eingesetzt – eben menschlicher. In anderer Choreografie könnte sie sicher eine breitere Palette ihrer Emotionen zeigen – Spuck verlangt ihr da zu wenig ab. Technik, ja – und das kriegt sie ja auch prima hin, weniger erotisch kalkuliert, auch weniger vulgär. Sie würde ich gern mal als Jochen Ulrichs Lulu sehen.

Wie ich denn Christian Spuck dringend empfehlen möchte, sich das Video der Kölner Produktion von Jochen Ulrich einmal anzusehen. Da würde ihm dann vielleicht aufgehen, wie viele Möglichkeiten der psychologischen Entwicklung der Titelrolle er sich hat entgehen lassen. Wie denn überhaupt bei mehrmaligem Sehen auch die Schwachstellen dieser Produktion deutlicher werden. Die Durchhänger, namentlich im Paris- und London-Bild. Die schmerzlichen musikalischen Umbrüche (ich weiß, sie sind gewollt) – wie ich mich denn mit dem Schostakowitsch-Schönberg-Berg-Potpourri immer weniger befreunden kann (übrigens hat die Vorstellung nicht, wie auf dem Besetzungszettel angegeben, James Tuggle dirigiert, sondern – so hat man es mir jedenfalls gesagt – Willem Marcel Wentzel.

Alles in allem eine durchaus empfehlenswerte Produktion und eine exzellent getanzte Vorstellung (auch von den Lulu-Doubles). Was ich vermisse, sind geschärfte individuelle Charakterprofile, auch unterschiedlichere lokale Definitionen für die Berlin-, Paris- und London-Akte und dito die entsprechenden musikalischen Environments – Schostakowitsch macht natürlich einen tollen Effekt, suggeriert aber eher einen frühsowjetischen Lunapark!

Kommentare

Noch keine Beiträge