Typisch tierisch, allzu menschlich
„Just a game“ in Mannheim
Merkwürdiger Fall! Zufällig gerate ich beim Surfen im Internet auf die – sehr zu empfehlende – Database „Stravinsky the Global Dancer – A Chronology of choreography on the music of Igor Stravinsky“, erstellt von der englischen Roehampton University, Surrey. Und was finde ich da? „Les Noces“ von Igor Strawinsky, choreographiert von Stephan Thoss am 11. Dezember 1994 beim Stuttgarter Ballett. Muss ich also gesehen haben. Habe ich auch! Ich krame in meinem Archiv und finde dort – zusammen mit Renato Zanellas „La Chambre“ und Nacho Duatos „Coming Together“ die als Uraufführung angekündigten „Les Noces“ von Stephan Thoss, Musik von Strawinsky und Arvo Pärt (vom Tonband), Bühnenbild, Kostüme und Beleuchtung von Jordi Roig – mit Sue Jin Kang und Ivan Cavallari als Brautpaar der Vergangenheit, Julia Krämer und Tamas Detrich als Brautpaar der Gegenwart, Sonia Santiago und Thierry Sette als Brauteltern der Vergangenheit sowie Claudia Shinn und Randy Diamond als Brauteltern der Gegenwart plus vier Tänzerpaare für die Vergangenheit und vier für die Gegenwart.
Habe ich also gesehen und auch darübergeschrieben – und offenbar völlig vergessen. Im damaligen Programmheft finden sich auch detaillierte Angaben zu „Fratres – Teil 1“ und „Les Noces – Teil 2“. Zu denen gab ich allerdings schon damals zu bedenken: „Was er allerdings über den Inhalt seiner Version von Strawinskys ‚Les Noces‘ sagt, ist vom Zuschauer kaum nachzuvollziehen. Am besten liest man seinen Kommentar erst hinterher – um zu erfahren, was man alles nicht gesehen hat ... Überflüssig der Entschluss, Strawinskys Partitur noch Arvo Pärts ‚Fratres‘ als Prolog voranzustellen ...“ Wenn ich die Kritiken der Kollegen überfliege, so ist deren Grundton so ziemlich derselbe – die Klage über die Ununterscheidbarkeit der Paare und der Zeiten. In Hannover, wo die „Incantations“ als Uraufführung am 16. Mai 2003 angekündigt waren, ist mir jedenfalls nicht bewusstgeworden, dass ich die Thoss-Version von Strawinskys „Les Noces“, hier mit vorangestelltem Prolog und Epilog aus Strawinskys „Orpheus“ und nun unter dem Titel „Erkennen“ firmierend, schon einmal gesehen hatte.
Auch in Hannover gibt es die zweimal zwei Solistenpaare – hier nun lediglich als Paare und Eltern bezeichnet, und die zweimal vier Gruppenpaare. Allerdings hat sich Thoss diesmal jeden spezifischen Kommentars jenseits seiner allgemeinen erotischen Spintisierereien enthalten. Und für Bühne, Kostüme und Licht zeichnen Till Kuhnert, Nina Lepilina und Thomas N. Smith verantwortlich. Habe ich nun zwei verschiedene Uraufführungen gesehen, oder war es doch dieselbe Choreografie? Ich weiß es nicht. Beeindruckt in Hannover hat mich – siehe koeglerjournal vom 20. Juni – die phantastische Musikalität von Thoss und sein ganz und gar eigengeprägtes Vokabular – wie schon seinerzeit in Stuttgart. Dass es sich um zwei verschiedene Generationen gehandelt hat, ist mir hier so wenig wie dort bewusstgeworden.
Nachträglich bin ich doch ziemlich erschrocken. Bin ich inzwischen schon so senil geworden, dass ich im Abstand von neun Jahren nicht mehr erkannt habe, dass es sich im Grunde um dieselbe Choreografie gehandelt hat? Oder hat Thoss tatsächlich zwei verschiedene Choreografien – wie es ja die Uraufführungszuschreibung für Stuttgart und Hannover behauptet – zu Strawinskys „Les Noces“ kreiert? Was immer er selbst dazu zu sagen hat: Gern wüsste ich, wie die in Stuttgart beteiligten Tänzer die Version von Hannover beurteilen.
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