Sublime Spannung

Das Bayerische Staatsballett und sein „Porträt John Neumeier“

München, 23/03/2003

Die drei ganz in blau gehaltenen Stücke, die Neumeier für sein Münchner Porträt vereint hat, sind von einer klaren ästhetischen und musikalischen Schönheit. Dämmern (1972) wird zu kleinen Klavierwerken von Alexander Skrjabin getanzt. Wenn Svetlana Behrischs einfühlsame Interpretation am Flügel anfängt, öffnen sich mit kelchartigen Port de bras auf der ansonsten leeren Bühne zwei, vier Tänzerinnen der Musik, voller Konzentration und Ruhe, während weitere Tänzer auftreten. Neue Gruppierungen, Begegnungen und Akzente ergeben sich. Bald steht die tänzerische Attitüde gleichwertig neben der Musik (Soli: Norbert Graf, Valentina Divina). Ein Pas de deux (Lisa Cullum, Cyril Pierre) visualisiert die durch Skrjabin ausgelösten Emotionen in kinetischer Langsamkeit. Darauf folgt ein Solo der personifizierten Leichtigkeit (Maria Eichwald).

Neumeier erzielt mit den folgenden Gruppierungen eine formal aufgeladene Raumwirkung. Und wenn er hinten zum wiederholten Mal die Projektion eines Porträtfotos von Skrjabin aufdämmern lässt, wirkt es am Ende so, als blicke der Komponist auf die Verkörperung seiner Gedanken, so sehr ist der Tanz zu einem Äquivalent der Musik geworden. Weitere Miniaturen: Wie ein einsamer Nachtgedanke hebt ein Solo (Lisa Cullum) an und findet im sukzessiven Anschluss der Anderen seine Ergänzungen. Es gibt freudig verspielte Pas de deux (Maria Eichwald, Amilcar Moret Gonzales) oder lange skulpturale Hebungen (Kusha Alexi und Roman Lazik), gebrochene Soli (Sherelle Charge) oder die dynamischen Sprünge und Pirouetten der männlichen Solisten (an ihrer Spitze Cyril Pierre). Dämmern ist eine Fundgrube dafür, wie John Neumeier seine Tanzsprache und spezifische Gesten gefunden hat, und als Auftakt für ein Porträt Neumeiers ein Glücksfall.

Noch spannender und stärker wirkt „In the Blue Garden“. Das Finalstück der „Trilogie M.R.“ (1994) spielt im Bühnenbild von Zack Brown, der den Bühnenraum in ein wolkig lichtes Blau verwandelt hat, in dessen Hintergrund eine Mittelrampe zu einem Damm aufsteigt. Das Thema knüpft an Maurice Ravels „Ma Mère l Óye“ an, das das Staatsorchester unter der Leitung von Oliver von Dohnányi schwebend und farbenreich spielte. Neumeier variiert zufällige Begegnungen und das Motiv „La Belle et la Bête“. Dafür hat er in München eine ideale Besetzung gefunden: Auf den in Mantel und Hut vermummten Er, den Andersartigen mit seiner weißen Blume (Norbert Graf, ruhig, sensibel, abgründig und geheimnisvoll) treffen, aus einem Schiff mit roten Segeln steigend, ein Mädchen (Maria Eichwald, zauberhaft verspielt, wach, intelligent und wandlungsfähig), eine Frau (Lucia Lacarra im roten Kleid, elegant, mit exzeptionell starker Präsenz), der Blinde (Amilcar Moret Gonzales mit Hilflosigkeit und Sehnsucht, glaubhaft, unsentimental reduziert) und der Fremde (Guan Deng, bewusst orientierungslos). Wie dieses Personal hinunter in den Garten tritt, ist das ein märchenhaft-träumerischer Auftakt. Neumeier gestaltet spannende Pas de deux und findet in statischen Passagen atemberaubend schöne Bilder, die zu Herzen gehen können, setzt andere Passanten (7 Paare) als Zäsuren ein, hat glänzende szenische Einfälle und benutzt einfache Symbole. Am Ende kann man staunen, wie reich und vielfältig grundlegende Gedanken zur Besonderheit des „Anderen“ und seiner Akzeptanz vermittelt wurden.

Der Abend endet mit Mozarts „Jupiter-Symphonie“. Wie beim „Porträt Jirí Kylián“ dient Mozart als Rausschmeißer, aber diese vier Sätze sind eindeutig zu viel. Es gibt jedoch auch vieles zu genießen: Zum Beispiel wie zärtlich sich zur konzentrierten Ruhe des Adagios die Choreografie im Pas de deux von Maria Eichwald und Alen Bottaini entfaltet, oder wie spannungsvoll und kultiviert Cyril Pierre mit Lucia Lacarra tanzt. Sie, die dank ihrer vollendeten Bewegungen und schier unbegrenzten Amplitude stets die latente Dramatik einer Primaballerina ausstrahlt, ist neben Eichwald der Star des Abends. Wenn das Ensemble - Neumeier hat hier inklusive der 16 Solisten 50 Tänzer eingesetzt - all die Wechsel von Gruppierungen und Raumaufteilung mit Feuereifer absolviert hat und das Auge auch die analog zur Emotionalität der Musik von Blau bis zu schieferfarbenem Türkis wechselnden Farbtöne der Bühne (Klaus Hellenstein) wahrgenommen hat, feiert die Massenregie des Finales noch einen glänzenden Triumph. Doch weil Kristallisationspunkte fehlen, fragt man nach diesem Marathon: Wozu?

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