Dem Tanz Stimme geben
Les Grands Ballets Canadiens de Montréal, Ohad Naharin und ein Resumée der Ballettwoche 2004
Der Israeli Ohad Naharin (Jg. 1952) zählt zu den kreativsten Tanzschöpfern weltweit. Mit seiner eigenen Batsheva Dance Company Tel Aviv gastierte er 2002 in Berlin. Am vergangenen Wochenende präsentierte die 30-köpfige franko-kanadische Company open air mit „Minus One“ (Uraufführung Montréal 2002) eine temporeiche achtzigminütige Tanzrevue, in der Naharin höchst unterschiedliche Sequenzen aus acht Tanzstücken der letzten zwanzig Jahre scheinbar beliebig zusammenstellt. Man könnte meinen, mehrere Choreografen hätten diesem Projekt zugearbeitet. Bruchstücke, die doch um ein Thema kreisen, das bereits vor dem eigentlichen Beginn der Vorstellung angerissen wird, wenn ein selbstverliebter Alleinunterhalter im schwarzen Anzug Cha-Cha tanzend in exzentrischer Körperpräsentation vergeblich nach dem Beifall der platznehmenden Zuschauer giert. Leben wie Tanz brauchen Partner.
Furios und beklemmend der Anfang: Wenn alle Tänzerinnen und Tänzer in schwarzen Anzügen im Halbrund auf weißen Stühlen in der dreizehnstrophigen Pessach-Hymne grölend mitsingen und sich bei steigerndem Tempo im Rausch kollektiver Körperwellen entkleiden, dann widersteht nur einer dem Massensog und verweigert sich dem Ritual nach vorn fallend. Jede Welle eine Salve in seinen Rücken. Dieser militanten Bewegungsexplosion folgt Bewegungskomik im Duett von Frau und Mann zu irischer Folklore. Sie fliehen voreinander, rennen, gehen, schupsen, robben auf Knien. In ihrer Furcht vor gegenseitiger Nähe bleiben sie menschliche Zwerge. Aus einer vertikalen Reihe lösen sich kurzzeitig Solisten, aus dem Off erzählen sie von sich und vom Tanz, der der Kranken, dem Stuntman, der Nägelschneiderin, dem Biertrinker, dem Namenlosen überleben hilft und dabei die Floskel „my body“ gekonnt auf „my“, „my“, „my“ akzentuiert. Vor lauter Egozentrik scheint der Tanz in ihren Körpern zu ersterben.
„I’m not good with relationships, here is my e-mail address“ – ein Lacher geht durchs Publikum. Dass der Tanz nicht nur den eigenen Körper spiegelt, sondern die Gemeinsamkeit feiert, beweist die Mittelszene. Sie sprengt die Isolation im doppelten Sinne, denn die Tänzerinnen und Tänzer holen sich Tanzpartner aus dem Parkett, die sie zum Jubel der Zuschauenden zum Dance with me Cha-Cha-Cha animieren. Fünfzehn Paare tanzen im gleichen Takt, ausgelassen, leicht, fest umschlungen. Hier könnte eigentlich finito sein, doch Naharin bleibt sich treu und kontert die Tanzseligkeit durch eine Folge nachdenklicher Frauensoli auf Arvo Pärts schwebende „Fratres“. Verlorene Schönheiten in dunklen Korsagen, mal auf dem Kopf stehend, festgenagelt, dann sprungstark, mit flehenden Armen den eigenen Körper ertastend, allein mit sich im dunklen Raum; ehe die Letzte verlischt, dreht sie sich zögernd um und ihr nachdenklicher Blick gleitet ins Parkett auf dem Marlene-Dietrich-Platz. Das Finale ist eine getanzte offene Frage, nah am Zeitgeist.
Zu Doris Days auch musikalisch verzerrtem arrangiertem Walzerlied „Que será, será“ tanzt jeder und jede für sich, ein absurd grandioses Panoptikum hüpfender Einzelkämpfer voll gekloonter Energie. Que será? Nichts bleibt wie es ist, so Ohad Naharin, im zeitgenössischen Tanz wie im Leben. Das unterstreichen Naharin und die sympathische Company aus Montréal. MINUS ONE – ein dynamischer Tanzcocktail, der Unterhaltung mit Nachdenklichkeit, Schmerz mit Komik mixt.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments