Dem Tanz Stimme geben

Les Grands Ballets Canadiens de Montréal, Ohad Naharin und ein Resumée der Ballettwoche 2004

München, 17/03/2004

Man war ins Prinzregententheater gebeten, um die diesjährige Gastspiel-Kompanie mit „Minus One“ zu erleben, einer Kollage von Ohad Naharins wesentlichen Choreografien des letzten Jahrzehnts. Les Grands Ballets Canadiens begannen den Abend bei offener Bühne zu einem leisen Mambo-Sound mit einem tänzelnden Conférencier. Kaum wechselte die Musik zum Cha-cha-cha, füllte sich die Tanzfläche mit 32 Tänzern, dem gesamten Ensemble, in schwarzen Anzügen mit Hut, die in der Stille sachte weitertanzten und die Zuschauer auf eine coole Revue einstimmten, bis plötzlich alle in exaltiertem Modern Dance explodierten. Die Stille nach einem elektronischen Sound-Inferno strukturierten programmatische Stichworte wie: „The illusion of beauty...“, „The panic behind the laughter...“, das schien das Motto des gesamten Abends. Ein Halbrund schwarzer Gestalten wurde sichtbar, auf Stühlen unter einem Lichtfächer sitzend. Die hebräisch singenden Tänzer steigerten die Dynamik ihrer unisono auf den Stühlen ausgeführten Bewegungen, strukturierten ihren Chor des Yehad Mi Yodea durch eine immer wieder la-ola-artig versetzte, doch blitzschnell auffahrende Bewegung, die wie ein Verzweiflungsschrei aussah. In den Schlusssequenzen flogen erst die Sakkos, dann die Schuhe, die weißen Hemden, Hosen in die Mitte; es blieben, ihrer Fassaden entledigt, die Tänzer und Tänzerinnen, erstmals unterscheidbar, in ihren grauen Leibchen, mit ihrem Gesang und verliehen der repetitiven Struktur einen machtvollen Drive.

Die folgenden Teile stimmten meditativ. Sieben Tänzerinnen vorn in einer Reihe tanzten aus der fünften Position heraus eine ruhige Sequenz zum mechanischen Tick-tack eines Metronoms. Sie verlegten ihre Reihe nach hinten, mit einsetzender Gitarrenmusik trat ein Solist auf und tanzte mit einer Partnerin in weißem Oberhemd Naharins „Passomezzo“, das auch vom Staatsballett Anfang der neunziger Jahre gezeigt wurde. Es endete zu schottischer Volksmusik so, dass beide ein imaginäres Labyrinth durchlaufen und sich am Ende finden. Dann nahm ein Mann im Fersensitz Platz, während sich rechts hinten eine Vierergruppe, alle mit nacktem Oberkörper und weiten Leinenhosen, wie eine aufgehende Blume um einen Wassereimer entfaltete. In der rituell anmutenden Choreografie konnte man Grundlegendes assoziieren. Ein sonnendurchflutetes Land und die Sehnsucht nach einer Utopie: Wechselnde Paare teilten Essen und Trinken, friedliche Koexistenz wurde vor Gewalt, Tod und Trauer gestellt. Am Ende war in dem Eimer, aus dem die Männer ihre Körper zu Beginn mit Schlamm mönchisch zeichneten, klares Wasser. Wir sind und bleiben in einer verrückten Unterhaltungs-Show, woran die bizarre Gestalt einer Sängerin auf grotesk überhöhten Absätzen erinnerte, die das Play-Back ihres Gesangs lässig entlarvte. Anschließend illustrierte eine Reihe von 13 Tänzern mit uniformen Gesten die Manipulation unserer Emotionen, wie sie von einem Moderator mit sonorer Stimme beschworen wurden.

Das Meditative und den souveränen Umgang mit Show-Elementen verbanden die Kanadier in ihrer Naharin-Anthologie mit einer Liebeserklärung an den Tanz. Einzelne Mitglieder des Ensembles erzählten, wie sie zum Tanz gekommen sind. Das sind sehr persönliche Geschichten, zu denen jeweils ein Tänzer seine Improvisation tanzt, bis ihn die quer laufende Reihe des Ensembles wieder schluckt und den nächsten ausspuckt. Als hervorstechende Qualität zeigten die Grands Ballets Canadiens, dass sie als ein Ensemble auftreten können, in dem der Einzelne geradezu anonym aufgeht, aber jeder einzelne seine Individualität behält. Als Ganzes wirkten sie deshalb sehr realistisch, ehrlich, lebendig und sympathisch.
Deshalb können sie auch mit dem Publikum spielen und taten das überraschend mitten im Stück. Sie fanden zurück zur Konzentration auf die Solo-Exerzitien in Arvo Pärts „Fratres“, die in meisterlicher Raumaufteilung zwischen den Fade outs aus dem Dunkel kamen. Musikalität und Bewegungsqualität beeindruckten: Das war nicht einfach Tanz, da hatten das Schwingen des Körpers, das Ausfahren der Arme und ihr Aufliegen auf dem Luftpolster der Raumenergie eigene Aussagekraft und schufen Atmosphäre. Als die Tänzer und Tänzerinnen beim Ablaufen von Kreislinien und Reihen zum stark verfremdeten Arrangement von Doris Days „Que será, será“ etwas klamaukig auftrumpften, ging ein Programm zu Ende, das nicht nur Qualität und Bedeutsamkeit bot. Es hat in München auch alle in beste Laune versetzt. Konnte man sich nach dieser überaus anspruchsvollen Ballettwoche ein idealeres Finale denken als dieses auf hohem Niveau entspannte „Minus One“?

Als letztes die Bilanz der Ballettwoche 2004: Mit der Premiere „Porträt Mats Ek“, der noch rückhaltloser getanzten Zweitvorstellung, in der ich vor allem eine unerschöpfliche Kaskade phantastischer Bewegungen sah, mit dem vielschichtigen „Porträt Jirí Kylián“ als zweitem modernen Abend, mit einer ergreifenden „Kameliendame“ und zwei klassischen „Dornröschen“-Vorstellungen, in denen Maria Eichwald als großartige Aurora debütierte und sich die neue Solistin dieser Saison, Natalia Kalinitchenko, als ein Dornröschen präsentierte, die bald auch ein so anspruchsvolles Werk wird tragen können, hat das Bayerische Staatsballett nicht nur eine überzeugende Leistungsschau gezeigt, sondern auch, dass die Kompanie glänzend motiviert und disponiert war. Die schlüssige Dramaturgie wiederholte sich in der „Terpsichore-Gala“ zu Ehren George Balanchines, die offenbarte, wieviel Petipa in Balanchine enthalten ist und wie er seinerseits Choreografen wie Hans van Manen und William Forsythe inspiriert. Auch die Tatsache, dass man gleichzeitig zu Balanchine-Galas in aller Welt Gäste wie Maria Kowroski und Igor Zelensky im Nationaltheater sehen konnte, zeigte, was Ivan Liska und sein Leitungsteam vermögen und dass sie für ein so großes Haus die Richtigen sind. Der Gesamtverlauf, durch die glückliche Wahl der Gastkompanie gekrönt, animierte alle Beteiligten und Zuschauer nachhaltig und könnte die Rückkehr zum alten Namen begründen: Es war eine Ballett-Festwoche!

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