Tänzerisches Freilichtabenteuer in metallener Raumarchitektur

Ballet National de Marseille zu Gast in Berlin

Berlin, 04/09/2005

Untrennbar schien das Ballet National de Marseille mit dem Namen Roland Petit verbunden. Seit 1972 leitete der französische Choreograf die nach Paris zweitgrößte Kompanie des Landes und schwor sie mit Klassikern und spektakulären Uraufführungen auf sich ein. Stets lag ein Hauch von Revueglanz über den Kreationen, Sex, Chic und Chichi wurden sein Markenzeichen. Als der routinierte Theatermann nach rund drei Jahrzehnten in Pension ging, sorgten sich viele um die Zukunft seiner Personalkompanie. Nach der glücklosen Kurzära einer Pariser Ballerina steht dem Ballett aus Marseille nun seit 2004 der Belgier Frédéric Flamand als neuer Leiter vor. Sein Werdegang unterscheidet sich gründlich von dem Petits. Mit seiner 1973 gegründeten Performancegruppe Plan K untersuchte er das Verhältnis zwischen Körper, visueller Kunst und audio-visueller Technologie. 1991 funktionierte er mit internationalem Erfolg das Ballet Royal de Wallonie in die modern ambitionierte Formation „Charleroi/Danses“ um. In Marseille erprobt er derzeit eine ähnliche Heilprozedur.

„La Cité Radieuse“, Flamands vor knapp zwei Monaten uraufgeführte Erstproduktion für das neue Ensemble, beendet eine Trilogie um die Beziehung zwischen Körper und Stadt. Gleich zwei Architekten fühlt er sich diesmal verbunden. Ein Buch „Le Corbusiers“ gab den Namen des 70minütigen Stücks, dessen in den 1950ern für Marseille entstandenes Beispiel sozialen Wohnungsbaus die Anregung. Gemeinsam mit dem Städteplaner Dominique Perrault sucht Flamand nach dem Fortwirken der Visionen Le Corbusiers in der Gegenwart. Perrault, bekannt geworden auch durch seinen preisgekrönten Entwurf für das Berliner Velodrom 1992, baut dazu für den Tanz eine Bühne aus kalt glänzendem Metallnetzwerk. Als geschlossene Wand hängt es vorn tief herunter, als Reihung verschiebbarer Paravents bildet es weit hinten den spannungsvollen Gegenpart. Hineingeworfen in diesen synthetisch strahlenden Kosmos, suchen die Tänzer nach einer Orientierung.

In ihren Drahtkäfigen sind sie anfangs nur schemenhaft zu erkennen, ehe sie mit geschmeidigen, spiraligen Bewegungen den Freiraum erobern. Immer wieder verschieben sie die Gitter in andere geometrische Raster, schaffen ständig Räume, vor oder in denen sich ihr Tanz ereignet, als würden sie der realen Welt entgleiten, von einer Welt in die andere überwechseln. Simultane Videoprojektionen der tänzerischen Aktion auf die Metallflächen, in Großaufnahme oder Draufsicht, komplettieren das Verwirrspiel um Realität und Abbildung. Nichts hat darin bestand, alles unterliegt der Veränderung - auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. In ihren Drahtzimmern mit per Video simulierten Gegenständen wie Stuhl, Kleid, Lampe, gedeckter Tafel bleiben die Menschen einsam, suchen sie Liebe, praktizieren Gewalt. Zu Arienschnipseln findet auch ein Duett nur in tänzerischen Fetzen statt; auf funktionierenden Körpern fingern Lichtstrahlen herum.

Zu einer Endlos-Rumba vollzieht sich witzig videobegleiteter Tanz nach schriftlicher Ankündigung: Zwillinge tummeln sich vor einer Puppenprojektion, in Hüftschwüngen darf sich zu Stadiongejohle die gesamte Gruppe austoben, eine Dame mit gelber Schleppe spielt Star in Japan. Mit Spiegelbildeffekt erzeugt Flamand schließlich die Illusion von Tanz in Welt und Gegenwelt. Wände treiben eine Ballerina darin um, vor einem Laufband mit Aktienkursen wirbelt ein Mann über den Boden. Im folgenden Duett kommen die Kontakte nur mit kampfsportlich abwehrendem Vokabular und vehementem Tempo zustande. Am Ende verschwinden alle 15 Akteure zu japanischem Schlagergesang, Werbung für ein Baukastensystem und Regenbogenlicht hinter dem Drahtverhau. Übrig bleibt eine menschenfreie Zone der Künstlichkeit.

Flippig, elektrisierend und locker entspannt ist Flamands Tanz, angereichert mit Elementen des Streetdance und der martial arts, rasch müde der eigenen Erfindung und auf der Suche nach neuem Reiz. Dass sein Puzzle aus Kurzschnipseln nicht bedrohlich wirkt, machte das Gastspiel des potenten Ballet National de Marseille auf dem Marlene-Dietrich-Platz zu einem anregenden tänzerischen Freilichtabenteuer.

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