Leise flehen meine Lieder...
Eröffnung der 15. Oldenburger Tanztage
Das Beijing Modern Dance Theatre im Haus der Kulturen der Welt
Kleine helle Kissen gliedern die rundum schwarz ausgeschlagene Szene diagonal wie Wegmarken. Aus dem Dämmerlicht des Ungewissen bewegt sich über sie hinweg extrem verlangsamt eine weiße Barfußgestalt, dreht sich, lässt geschmeidig ihr langes Haar in der Rückenbeuge über den Boden gleiten. Vokalisen und Stimmartistik begleiten anfeuernd den Gang. Sein Ziel ist die Bühnenmitte: Dort kniet inmitten des wallenden Seidenbrokats ihres Umhangs reglos eine zweite Gestalt. So sehr die Wanderin versucht, eins mit der Knieenden zu werden, so sehr beider Arme in filigranem Spiel einander umwerben, die Körper schließlich beinah verschmelzen - noch obsiegt spürbar das Trennende zwischen den Frauen. Die Flugversuche der Weißen bleiben kantig und erdnah.
Eine knappe Stunde währt jener Widerstreit zwischen Moderne und Tradition, wie er nicht nur für das China unserer Tage typisch sein mag. Dem Aufbegehren der schmalen jungen Frau im langen weißen Hosenrock mit Bikinioberteil begegnet die ganzkörperlich Verhüllte zunächst mit blockhafter Ablehnung und der Gelassenheit, die sich aus dem Gebundensein in den Zeitenfluss speist. Durch ein breites rotes Band, Nabelschnur oder kulturelles Bewusstsein, sind in der nächsten Episode die Frauen verknüpft. Als die Verbindung reißt, bleibt die Weiße unumkehrbar separat zurück. In der Unsicherheit des Neuen vollzieht sich nun ihr Leben: Ihre schlurfenden Füße zeichnen ein unstetes Lichtkarree, einen Fluchtversuch vereitelt die Verhüllte. Die Junge bleibt in die Gegenwart geworfen, muss mit zuckendem Körper und furios flackernden Bewegungen um inneren Halt und äußere Haltung kämpfen. Einen verlorenen Schuh fordert die Gegenspielerin symbolhaft zurück.
Qualvoll wird dieser Prozess der Loslösung und erfasst am Ende auch die Verhüllte. Mit den Zähnen zieht die Weiße ihr den Brokatmantel aus und scheint davonzufliegen. Im schlicht violetten Alltagskleid tastet sich die nunmehr Enthüllte in jenem Lichtstrahl auf Augenhöhe, den zuvor die Weiße in einer grandiosen Bildmetapher als schwierigen, aber möglichen Weg vorgezeichnet hat, einem anderen Leben entgegen. Mit „Jue“ (Erwachen) ist der Beijing Modern Dance Company ein aufwühlender Appell zur fortwährenden Erneuerung gelungen. Dass Gaoyan Jinzi und Luo Lili, mit westlich hektischer Bewegungsart die eine, asiatisch lieblich die andere, Tochter und Mutter sind, verlängert den Konflikt in den privaten Alltag hinein.
Das von der bravourösen Stimmvirtuosin Liu Sola, Pipa und Trommel begleitete Duett mit seinen wundervoll verflochtenen Linien eröffnete gleichsam das weitausholende Projekt „Über Schönheit“, mit dem das Haus der Kulturen der Welt in Ausstellungen, Debatten, Filmen und Musik der Bedeutung jenes ästhetischen Terminus für die Gegenwart nachspürt. Das Jin Xing Dance Theatre aus Shanghai und Rubato aus Berlin, Susanne Linke und Yumiko Yoshioka bestreiten weitere Tanzgastspiele.
Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tel. 39 78 71 75.
Veranstaltungen noch bis 15. Mai, www.hkw.de
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