Schamanistische Fingerübung

„Product of other circumstances” von Xavier Le Roy im Haus der Kulturen der Welt

Berlin, 05/06/2010

Xavier Le Roy ist ein Spezialist für Kontextverschiebungen. Vor drei Jahren eignete sich der Choreograf die Bewegungsabläufe des Dirigenten Simon Rattle bei einer Aufführung von „Le Sacre du Printemps” an und stellte sie als fleischgewordenes Ready-made ins Zentrum eines Tanzsolos. In seiner neuesten Arbeit „Product of other circumstances” macht er die Fragestellungen und den Prozess der künstlerischen Anverwandlung fremder Welten plastisch sichtbar.

Ausgangspunkt des zweistündigen Abends, der immer wieder zwischen Vortrag und entrückter Tanzperformance oszilliert, ist die provokative Anfrage eines Künstlerkollegen, Le Roy solle doch bitte innerhalb von vier Monaten ein Stück zum Thema Butoh erarbeiten. Butoh, der „dunkle”, expressionistische Tanz, der von japanischen Meistern wie dem diese Woche verstorbenen Kazuo Ohno weltberühmt gemacht wurde, scheint dem konzeptuell denkenden Le Roy zunächt sehr fern zu liegen. Über persönliche Erinnerungen und Internetrecherchen versucht sich der Künstler ein Bild von der Fragestellung zu machen.

Videos von verkrümmten, embryonalen Gestalten, die nichts „zeigen” wollen, sondern in einer schamanistischen Art und Weise zu Bäumen, Blumen oder Gegenständen „werden”, befremden und faszinieren ihn zugleich. Er beginnt Posen zu imitieren, übt im Studio nach Anweisungen aus Büchern, bis ihm schließlich klar wird, dass das fertige Produkt seiner Arbeit keine imitative Butoh-Performance sein kann, sondern nur ein Vortrag, der den gesamten Prozess von Lernen und Verwerfen beinhaltet.

Nicht von ungefähr knüpft der Titel der Performance an das zehn Jahre alte Vortragsstück „Product of circumstance” an, in dem Le Roy über seinen Werdegang vom Molekularbiologen zum Tänzer und Choreografen reflektierte. Von der Wissenschaft hat sich der Künstler eine analytische Schärfe bewahrt, die im Zusammenspiel mit trockenem Humor und der Bereitsschaft, ständig die eigenen Gewissheiten über Bord zu werfen, auch in der Kunst erstaunliche Ergebnisse hervorbringt.

Das Faszinierende an der Performance ist die Leichtigkeit, mit der Le Roy die Übergänge zwischen scheinbar unvereinbaren Gegenpolen bewältigt. Gerade hat er sich mit verkrallten Fingern und immer stärker röchelndem Atem scheinbar in eine Art embryonaler Trance hineingesteigert, da gleitet er auch schon wieder in die Rolle des selbstironischen Conférienciers zurück.

„Product of other circumstances” kommt mit sehr viel Understatement daher. Zweifellos ist es eher eine intellektuelle Fingerübung, ein „Amateurstück”, wie es Le Roy selbstironisch sagt. Dennoch gibt der Abend faszinierende Einblicke in die Arbeitsweise eines Künstlers, der den zeitgenössischen Tanz der letzten Jahre beeinflusst hat wie nur wenige andere.

www.hkw.de

 

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