Der Balkan, wie er einmal war. War er so?

Peter Wrights „Coppélia“, importiert aus Birmingham

oe
Karlsruhe, 20/11/2005

„Don Quixote“ als Auftakt. Ein Jahr später dann „Giselle“. Und nun also, zu Beginn der dritten Spielzeit von Birgit Keil als Ballettdirektorin in Karlsruhe, „Coppélia“. Das ist ein klares Bekenntnis zur klassischen Tradition – und dazu gehört heutzutage ja ein gehöriges Quantum Mut. Meinen unbedingten Respekt also der Karlsruher Ballettchefin (und ihrem Intendanten Achim Thorwald)! Neben Stuttgarts altrussisch-viktorianischer Klassikorientierung hätte ich mir für Karlsruhe allerdings statt einer dezidiert tschechisch-britischen Ästhetik eher eine Hinwendung zur Grand Nation jenseits des Rheins gewünscht – à la Roland Petit beispielsweise. Eine Prise Pariser Chic statt puritanischer Country-Idylle!

Den Sensationserfolg seiner „Giselle“ hat Peter Wright mit dem Export seiner Birminghamer „Coppélia“ vom Jahrgang 1995 nicht wiederholen können. Da ist ihm mit der Ausstattung von Peter Farmer bei aller Werktreue und choreografischen Gewissenhaftigkeit dem Original der Messieurs E.T.A. Hoffmann, Nuitter, Delibes, Saint-Léon, Petipa und Cecchetti mitsamt der Mesdames de Valois und Pamela May gegenüber (was für ein globaler künstlerischer Stammbaum!) zu viel englische Detailpusseligkeit in die Inszenierung geraten. Und die lässt die Karlsruher „Coppélia“ bei aller tänzerischen Quicklebendigkeit doch reichlich altbacken erscheinen. Das Premierenpublikum – wie wohl auch die künftigen Abonnenten – allerdings genoss den unverblümt nostalgischen Operetten-Populismus. Und ich muss gestehen, dass auch ich immer wieder von dem unweigerlich den Blutdruck erhöhenden Elan angesteckt wurde, der da über die Rampe brandete. Wenn schon Operette, wäre mir persönlich jedoch eine Produktion à la „Grande Duchesse de Gérolstein“ lieber gewesen als so viel Etepetete-„Großherzog von Baden“-Pantomimik.

Auch hätte ich mir mehr Sensibilität und Delikatesse im Umgang mit Delibes‘ fußkitzelnder Partitur gewünscht als die von Jochem Hochstenbach und der Badischen Staatskapellisten praktizierte Routine. Und bei aller erzählerischen Genauigkeits-Pingelei und liebevollen Charakterprofilierung etwas weniger umstandskrämerische Schnörkel und augenzwinkernde Anbiederung ans Publikum. Auch hätte sich Sir Peter unbedingt etwas anderes einfallen lassen sollen für die ohne Programmheftlektüre unverständlich umständliche Kornähren-Pantomimerei – ganz zu schweigen von dem inzwischen doch reichlich verstaubten Schlussakt mit dem „Maskenspiel der Glocke“ samt Hergottsvater mit Rauschebart (es hätte ja nicht gleich ein Aktualitätsbezug zur Glockenweihe der Dresdner Frauenkirche sein müssen). Doch genug der Bedenken angesichts einer Produktion, die durch ihre herzerwärmende Liebe und vor allem durch ihren unwiderstehlichen, mit so ausgesprochen südamerikanischen Charme und Temperament aufgeladenen Esprit das Publikum geradezu in einen Rausch katapultiert.

Und wie denn auch nicht bei so viel frisch gestärktem, so auf Hochglanz poliertem jugendlichem tänzerischen Brio! Und das nicht nur von den Solisten, sondern auch von den Koryphäen und dem Corps, die in ihre Variationen, die Mazurka und den Csárdás so viel Schmiss und Gusto investierten, dass man sich die Augen rieb (zumal wenn die Interpreten Antonia Vitti, Anaîs Chalendard, Imogen Wearing und Flavio Salamanka heißen). Und wenn man sich auch Matthias Deckert alias Dr. Coppélius kaum als schusseligen Direktor einer geriatrischen Klinik vorstellen kann, so formte er den Charakter dieses Eigenbrötlers mit so kauziger Schrullenhaftigkeit, dass ihm ein Ehrenplatz im Biotop der Spalanzanisten sicher wäre. Ganz zu schweigen von der pausbäckig aufgeblähten Eifersucht, die wie ein Ballon die Swanilda von Paloma Souza durch die Lüfte segeln lässt (wenn sie nicht gerade mit ihren nähmaschinenhaft zugespitzen Füßchen den Boden traktiert), oder der ausgesprochen coffein-potenzierten Offensive, mit der Diego de Paula als Franz wie ein abgespeckter Maradona seine Charme-Pfeile ins Tor der Publikumsgunst schießt. Ja, das waren noch Zeiten auf dem Balkan, als die Kapitale von Herzegowina Coppeliavicz hieß!

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