Engel ohne Flügel

Mauro Bigonzettis Ballett "I Fratelli - Die Brüder" beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 04/12/2006

Was bringt einen guten Choreografen dazu, seinen Stil plötzlich so zu verändern? Eigentlich ist die Ballettstadt Stuttgart, sind die fantastischen Stuttgarter Tänzer fast immer eine Inspiration für die zahlreichen Choreografen, die Ballettdirektor Reid Anderson hierher einlädt. Nicht so bei Mauro Bigonzetti. Sein neues Handlungsballett für das Stuttgarter Ballett ist ein düsteres Stationendrama ohne Entwicklung, oft langweilig und manchmal gar unverständlich.

Die Vorlage stammt aus dem Jahr 1960; als berühmtes Beispiel für den italienischen Neorealismus erzählt Luchino Viscontis Schwarzweißfilm „Rocco und seine Brüder“ die Geschichte von Mutter Rosaria, die mit ihren fünf Söhnen aus dem verarmten Süditalien nach Mailand zieht. Dort verlieben sich die Brüder Rocco und Simone in dasselbe Mädchen, die Prostituierte Nadia, und diese Dreiecksgeschichte steht im Mittelpunkt des Balletts. Die Großstadt korrumpiert den Familienzusammenhalt, die Moderne macht den Menschen kalt und egoistisch.

Mit seinen gedeckten, düsteren Farben erscheint das Ballett „I Fratelli“ rein optisch (und seltsamerweise auch in manchen Teilen der Choreografie) wie eine Fortsetzung von Christian Spucks „Sandmann“ aus der letzten Spielzeit. Zu den detailgetreuen 60er-Jahre-Kostümen von Maurizio Millenotti steht das Bühnenbild, so man von einem solchen sprechen kann, in merkwürdigem Kontrast: Ins weite Dunkel der leeren Bühne hat Fabrizio Montecchi ein paar große Podeste gestellt, die sich in einen abstrakten Riesentisch verwandeln lassen, auf dem die ganze Familie gemeinsam speist, in einen Boxring oder mit viel Fantasie auch in den Stadtpark. Natürlich kann man auf einer Bühne nicht die Außenansichten des Films nachempfinden, aber so völlig ohne atmosphärische Verortung, ohne alle Anzeichen großstädtischer Verelendung hängt die Geschichte arg in der Luft.

Die Armut der Familie wird nie greifbar, zumal Bigonzetti die Brüder erst mal zum Tanztee schickt anstatt auf Arbeitssuche. Die dreistündige Filmhandlung haben der Choreograf und sein Dramaturg Pasquale Plastino stark zusammengestrichen. Die Motivation der Personen wird auf einfachste Beweggründe reduziert, das subtile Beziehungsgeflecht ins Plakative gezogen. Das Ballett raubt den Charakteren ihre Entwicklung: Nadia zum Beispiel wird durch Roccos Liebe nicht aus ihrem Prostituierten-Dasein geholt und kann infolgedessen auch nicht dorthin zurückfallen. Simone wird bei Bigonzetti schlagartig dann zum Verbrecher, als ihn ein Box-Promoter unsittlich anfasst: ein viel zu einfacher Grund, der Simones latente Gefährdung durch die Großstadt, seinen langen und unaufhaltsamen Weg ins Verbrechen unterschlägt. Am meisten aber leidet Rocco unter dieser groben Vereinfachung – Rocco, der Heilige, der im Film das Engelsgesicht des jungen Alain Delon trägt, dem die Familie über alles geht und der immer davon träumt, einmal in den Süden heimzukehren. Bei Visconti wird er nur deshalb Boxer, um die Schulden des Bruders abzuzahlen, er opfert sogar seine Liebe zu Nadia (und damit ihr Seelenheil), um Simone zu helfen. Nichts davon im Ballett. Im Gegenteil – hier besucht Rocco mit Nadia sogar einen Boxkampf des Bruders, als wolle er ihn provozieren.

Das Stück endet völlig abrupt mit Nadias Tod, und damit fehlt einer der berührendsten, traurigsten Teile der Filmhandlung: In seiner unerschütterlichen Treue zur Familie schützt Rocco den Bruder selbst dann noch, als der die geliebte Nadia ermordet hat. Von Viscontis Film bleibt ein oberflächlicher Abglanz, die Umsetzung des Neorealismus in Choreografie ist gründlich misslungen. Die Veränderung der Vorlage würde wahrscheinlich niemand interessieren, hätte Bigonzetti ein in sich stimmiges, spannendes Ballett geschaffen. Aber der italienische Choreograf enttäuscht auch gegenüber sich selbst. In seinem abstrakten Einakter „Orma“ schnürte einem das Gefühl der Trauer fast die Luft ab, in seiner „Romeo und Julia“-Adaption ging er völlig frei mit der Handlung um und setzte so deren Emotionen frei. Irgendwie aber fühlte er sich wohl verpflichtet, in Stuttgart ein „braves“, traditionelles Handlungsballett zu machen (obwohl das sicher niemand von ihm verlangt hat).

Anders kann man sich kaum erklären, warum seine ansonsten so kraftvolle, expressive Sprache hier plötzlich wie gelähmt wirkt, so putzig und pathetisch. Auf der Suche nach aussagekräftiger Bewegungssymbolik fallen Bigonzetti oft reichlich merkwürdige Bilder ein: Wozu der musiklose, völlig unerotische Strip-Poker zwischen Nadia und Simone, wozu Simones Kampf mit leeren Bierflaschen an all seinen zehn Fingern als ungewollt komischer Edward Bottlehands? Das gemeinsame Stampfen und Hüpfen, in dem sich der Familienzusammenhalt manifestiert, wirkt gar etwas dümmlich. Unter solch verfehlten Charakterisierungen leidet auch die große Marcia Haydée als Mutter Rosaria, die in ihren seltsam ungelenken, oft übertrieben pathetischen Auftritten wenig von ihrer dramatischen Kraft zeigen darf. Als Rocco bekommt Marijn Rademaker vom Choreografen fast keine Gelegenheit, ein Heiliger zu sein; aus dem sanften, außergewöhnlichen Menschen wird hier ein leidender, aber viel zu normaler junger Mann. Fast scheint Simones Charakter tiefer entwickelt zu sein, was sicher auch an Jason Reilly liegt, der dem mörderischen Bruder in einem eindrucksvollen Solo die Leidenstiefe eines sich selbst hassenden Verbrechers verleiht. Auch Katja Wünsche leidet unter der eindimensionalen Charakterisierung Bigonzettis – wo sich Nadia im Film eher treiben lässt und auf Rettung wartet, darf die Prostituierte hier kaum das einsame Mädchen hinter dem zynischen, berechnenden Äußeren zeigen.

Die schöne Musik zu dem etwas mehr als zwei Stunden dauernden Ballett stammt von Bruno Moretti, mit dem Bigonzetti eine langjährige Zusammenarbeit verbindet. Sie kommt weit in der Musikgeschichte herum und klingt mal emotional wie italienischer Opernverismo, mal wie Bernsteins Musicalrhythmen, mal einlullend wie ein Weihnachtsmärchen. Und meistens nach sehr guter Filmmusik. Vielleicht ist das ihr einziger Fehler – es ist Begleitmusik, kein herausforderndes Gegenüber. Ob sie Mauro Bigonzetti wirklich genug Inspiration war? Auch nach zwei weniger geglückten Beispielen wird der Stuttgarter Ballettdirektor Reid Anderson seine ausdauernde Suche nach neuen Handlungsballetten sicher nicht aufgeben. Nun ruht alle Hoffnung auf Stuttgarts exzentrischem Choreografenstar Marco Goecke, der sich in zwei Wochen an seinem ersten Abendfüller, dem „Nussknacker“ versuchen wird.

 

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