„Continuum“: der Titel als Zukunftsverheißung

Christopher Wheeldons Ligeti-Ballett, nachgeholt zum Saisonschluss

oe
Zürich, 18/06/2006

Die letzte Ballettvorstellung der Saison, die mit der Skrjabin-Premiere mittelprächtig begonnen hatte, dann mit dem „Schwanensee“ so ganz und gar Spoerli-untypisch abgestürzt war – nun also mit dem kompletten Wheeldon („Continuum“)/Kylián („Stepping Stones“)/Spoerli („Les Noces“)-Programm. Bei meinem Erstbesuch (kj vom 1.4. – kein Aprilscherz!) war Wheeldon krankheitshalber ausgetauscht worden. Nun also ein strahlender Sonntag, bei dem man den Eindruck hatte, dass sich ganz Zürich im Freien aufhielt. Das Haus gleichwohl, wenn schon nicht ausverkauft, so doch gut gefüllt. Und das bei diesem höchst anspruchsvollen Dreiteiler – für mich der beste der ganzen Spielzeit: drei zeitgenössische Komponisten von höchstem Rang (Ligeti, Cage, Strawinsky), drei meisterliche Choreografien – die Zürcher Kompanie absolut gleichrangig mit Berlin, Hamburg, München und Stuttgart (in alphabetischer Reihenfolge).

„Contiuum“ ist das Mittelstück von Wheeldons Ligeti-Trilogie, die nicht als solche gedacht ist (die beiden anderen Ligetis sind „Polyphonia“ – wie gehabt in Hamburg – und „Morphoses“). Entstanden ist „Continuum“ für vier Tänzerpaare in dunkelgrünen Ganztrikots (von Nancy Endy) für das San Francisco Ballet. Eine Woche vor der Zürcher Vorstellung ist Ligeti gestorben – in der Traueranzeige vom Verlag Schott als „der große Visionär und Klangmagier des 20. Jahrhunderts“ geehrt. Natürlich war die Zürcher Vorstellung seit langem geplant. Doch wer hätte die zufällige Koinzidenz an diesem Abend nicht als einen Akt der Hommage empfunden. Zum einen ob der musikalischen Sensibilität der Choreografie (und ihrer Ausführung durch Alexey Botvinov und Anna Kuvaja an Klavier und Cembalo) – zum anderen ob der Einstudierungspräzision und Interpretation durch die vier plus vier Zürcher Top-Solisten Seh Yun Kim, Pilar Nevado, Yen Han und Kusha Alexi sowie Amilcar Moret Gonzales, Iker Murillo, Vitali Safronkine und Jozef Varga.

Zwölf Stücke also, jedes anders timbriert: musikalisch, choreografisch, beleuchtungsmäßig (Natasha Katz – zu lange dunkle Übergänge). Nur am Anfang und Schluss sind alle vier Paare, klar strukturiert, auf der Bühne. Fünf Pas de deux, jeder individuell thematisiert, drei Soli (für Yen Han, Pilar Nevado und Vitali Safronkine), je ein Pas de quatre für die Damen (mit viel kanonischen Führungen) und für die Herren (durchgehend armverbunden). Auffallend die vielen angewinkelten Füße und Arme (die den Kopf wie einen Rahmen umgeben), auffallend auch die vielen, zum Teil reptilienhaften Bodenfiguren. Alles in allem ein reich variierter und strukturierter Neoklassizismus in der „Agon“-Nachfolge (ohne jegliche Forsythe-, Kylián- oder van Manen-Reminiszenzen). Ein absolutes Meisterwerk zeitgenössischer Choreografie!

Überlegen auch der Hamburger „Polyphonia“. Unseren Pas-de-deux-Junggenies Spuck und Schläpfer (aber auch Neumeier und Spoerli) zu gründlichem Studium empfohlen! Wheeldon, dreiunddreißig, ist Engländer, inzwischen aber unverkennbarer Angloamerikaner, seine Grundausbildung und Lehrjahre hat er beim Royal Ballet absolviert, seit 1993 ist er beim New York City Ballet, dort inzwischen resident choreographer, von Peter Martins in offenbar neidloser Anerkennung tatkräftig gefördert. Ein klassischer Choreograf, der die Ballette nur so aus dem Ärmel zu schütteln scheint, Gast bei zahlreichen Kompanien (gern gesehen auch beim Royal Ballet). Der personifizierte Gegenbeweis zu der These, dass die Mittel des klassischen Balletts erschöpft sind. Dass deren schöpferische Weiterentwicklung auch im Abseits der Forsytheschen Diaspora durchaus auch in der Zukunft noch möglich ist. Da hatte Spoerli offenbar den richtigen Riecher! Weswegen man den Titel „Continuum“ auch gern als Verheißung für die weitere Zürcher Ballettarbeit liest!

 

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