Demutsvolles Gefäß

Die Stuttgarter Choreografin Katja Erdmann-Rajski vertanzt Ingeborg Bachmann

Stuttgart, 23/10/2006

Achtzig Jahre alt wäre Ingeborg Bachmann im Juni geworden, und im Jubiläumsjahr inspiriert die spröde Lyrik und Prosa der Jung-Verstorbenen auch die Tanzschaffenden. Im Mai hatte ihr Marco Goecke in Braunschweig ein dunkles, erschreckendes Ballett gewidmet, in dem vierzig Minuten lang nur zu Bachmanns monotoner Stimme getanzt wird, jetzt stellt die Stuttgarter Choreografin und Tänzerin Katja Erdmann-Rajski ihre Bachmann-Interpretation vor: „Fall aus der Zeit“. Premiere hatte das Stück im Rotebühltheater, wo der Stuttgarter Off-Szene ein kleiner, fein ausgestatteter Saal zur Verfügung steht.

Die Ingredienzien des eineinhalbstündigen Stücks sind, wie immer bei der klugen und anspruchsvollen Erdmann-Rajski, komplex zusammensetzt und intellektuell durchdacht. Textauszüge von Bachmann bilden zusammen mit der Musik einen dichten, stark assoziativen Soundtrack, hinter dem leider einzig der Tanz zurückbleibt und auf Dauer zu eintönige, durchschaubare Bewegungen einsetzt. Die Musik von Matthias Schneider-Hollek montiert die großen Hits der Musikgeschichte zu einer Collage, von Isoldens Liebestod über die „Schöne blaue Donau“ bis zu Mahlers Auferstehungssymphonie, verzerrt sie mit elektronischen Effekten und klingt, als zappe jemand bei miesem Empfang durchs Klassikradio. In die elektronischen Störungen eingebettet und leider oft genug davon übertönt erklingen alte Radioaufzeichnungen von Ingeborg Bachmann, die seltsam unwirklich und fast modulationslos spricht. Auf der Bühne interpretiert die Schauspielerin Daniela Pöllmann Auszüge aus Bachmann-Texten, ihre stille Melancholie bildet dabei einen schönen Gegensatz zum unterschwelligen Getriebensein der Bachmann-Stimme.

Fünf Frauen gehen langsam von aus den linken Seitenkulissen in die rechten Seitenkulissen, diese Richtung bleibt auch das gesamte Stück der Weg aller Bewegung, ein endloser Kreislauf, von dem man nur die vordere Hälfte sieht. Die Tänzerinnen bewegen sich fast durchgehend einzeln, ohne einen Bezug untereinander; erst gegen Schluss reihen sie sich zu einer schier endlosen, immer wieder erneuerten Linie und schieben sich geschlossenen Auges von links nach rechts. Katja Erdmann-Rajski übersetzt Bachmanns Lyrik oder Prosa in leicht lesbare Posen der Einsamkeit und Angst wie Arme-Werfen, In-sich-hinein-Kauern oder schmerzvoll Dastehen. Auch die wohlbekannten Tanztheater-Symbole wie irres Lachen und stummes Sprechen sind da. Die Choreografin illustriert Texte durch Bilder, setzt ihnen aber kaum eine eigene Bewegungssprache entgegen, sie gibt sich mit der Rolle des demutsvollen Gefäßes vor der großen Inspiratorin Bachmann zufrieden. Ob das wirklich im Sinne der so unabhängigen, unbedingte Freiheit suchenden Autorin ist?

 

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