Träume, Schatten, Motten
Euro-Scene IV: „Onironauta“, „Sphinctérographie/Deface“ und „The long shadow of Alois Brunner“
Rollten vorjährige Festivalausgaben der Tanzavantgarde den Teppich aus, so rückte die 16. euro-scene Leipzig das Schauspiel in den Blick. Sie fragte nach dem Verhältnis zur Musik, nach Harmonien und Diskrepanzen innerhalb gesellschaftlicher Prozesse, wählte „Konsonanzen – Dissonanzen“ als Motto. Eingeladen waren an sechs Spieltagen in neun Spielstätten und 22 Vorstellungen 12 Gastspiele aus dem Europa zwischen Belgien und Ungarn sowie der Türkei. Veranstaltungen des Internationalen Theaterinstituts Berlin, Filme und Diskussionen bot das Rahmenprogramm.
Den einzigen reinen Tanzbeitrag hatte Hauptpartner BMW in sein Werk geholt. Im riesigen Foyer fand sich ein intimer Platz für Hans-Werner Klohes rundum einsehbares „Hugo Wolf Projekt“, das 75 Minuten lang auf silbrigem Podest mit eingesenktem Flügel Tanz und Musik in ein Beziehungsgeäder zwischen vier Personen verstrickt. Tänzerpaar, Pianistin und Sänger treffen sich agierend in eindringlichen Bildern um Einsamkeit, die sich aus Wolf-Lied, Skrjabin-Miniatur und Stille ergeben. Zeitgenössischer Tanz und klassische Musik in respektvoller, feinfühlig freizügiger Partnerschaft.
Wie vom anderen Pol dagegen „Dok.Tor“ des renommierten Teatr.doc aus Moskau. Die Kompanie spiegelt radikal ihr gesellschaftliches Umfeld, ob Strafvollzug, Obdachlosigkeit, Überfall aufs Moskauer Musical Theater, Beslaner Geiseldrama. Für „Dok.Tor“ fußt Autorin Elena Isajewa auf Gesprächen mit einem Dorfarzt, die Nachwuchsstar Wladimir Pankow zugespitzt inszeniert.
Der junge Chirurg Andrej trifft in der Provinz auf lethargische Kollegen, muss eine Geburt einleiten, einen Überfahrenen mit zerbröselndem Instrumentarium amputieren, den Rest Bein einfach abbrechen. Zum Comic gerät sein Vortrag, wie er einen von der Familie verstümmelten Trinker rettet, der später seine Frau umbringt. Langsam lernt er, der eigentlich auf die Kunstschule gehen wollte, nicht mehr mitzusterben, wenn ein Patient stirbt. Als mit Sergej, dem Neuen, das Spiel neu beginnt, ist Andrej Teil der gewissenlos wodkaseligen Medizinmafia. Aus seinem dokumentarischen Bericht inmitten wortlos choreografierter Mannschaft speist sich das harsche Stück, das mit Rock, Russenrap, Live-Akkordeon Zäsuren schafft und den Zuschauer betroffen zurücklässt.
Interviews aus Magazinen und TV-Shows, dazu Werbeslogans und Schminkanleitungen, verwenden auch Birute Mar und Oskaras Korsunovas vom OKT, dem Vilnius City Theatre. In ihrer „Grimo Opera“ („Make up-Oper“) sind drei Mimen Sänger, Schauspielerin, Tänzerin, die ihr Gesicht hinter Schminkmasken verbergen und, allen Schönheitstipps zum Trotz, als zerstörte, verbitterte Wracks enden. Videos in jagendem Tempo zeigen grell visagierte Gesichter, denen die Spieler heulend, kreischend, brummelnd, fistelnd ihre Stimme leihen. Komponist Antanas Kucinskas hat die virtuose Lautperformance mit hintersinnigem Humor ausgetüftelt.
Ausgeklügelte Ästhetik verknüpft Hotel Pro Forma aus Kopenhagen, Dänemarks wichtigste Experimentalgruppe, mit einem unglaublichen Lebensschicksal. „Theremin“ berichtet in betörend statischen Bildern über den Petersburger Cellisten und Physiker gleichen Namens, der in seinen 97 Erdenjahren das nach ihm benannte erste elektronische Instrument erfand, nach Rückkehr aus den USA in einen Gulag geriet, nach Erfindung einer Abhör-Wanze den Stalinorden erhielt und in Moskau Forscherkarriere machte. Lakonisch lassen die Regisseure Kirsten Dehlholm und Willie Flindt eine Schauspielerin aus Zitaten über den Wissenschaftler ein Persönlichkeitspuzzle formen, zum Höhepunkt seine Großnichte auf dem berührungslos durch Fingerbewegung zu vibrierendem Klingen gebrachten Instrument exzellieren. Eine frappierende Begegnung von Kunst, Physik, Politik auf dem Theater.
Eingebettet zwischen „Velma Superstar“ aus Lausanne, der Festivaleröffnung in der Arena Leipzig, und Alain Platels „vsprs“ als umjubeltem Finale wusste sich, neben Gastspielen auch der Stockholmer Soloperformerin Charlotte Engelkes und von Béla Pintér aus Budapest, das zauberhafte „Wasserkonzert für einen Wintergarten“ der Compagnie Mélodie Théâtre aus der Normandie zu behaupten. Sechs seriöse Herrschaften musizieren in laubenüberdachtem Bassin auf Gläsern, Schläuchen, Glocken, Töpfen, Röhren, Luftpumpe, Tröte, Muschel so fröhlich drauflos, blubbernd, gurgelnd, sprühend, dass die Welt des Wassers zum verblüffend musikalischen Kosmos wird. Soviel Einfallsreichtum gebührt die Goldene Palme, auch wenn Leipzig nicht Cannes ist.
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