Ein überfälliges Thema
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Neu: „Continuum“ von Christopher Wheeldon, „Stepping Stones“ von Jirí Kylián und „Les Noces“ von Heinz Spoerli
Über die Jahre werden die Leitlinien von Spoerlis Repertoirepolitik immer deutlicher. Da ist einmal der vielfach gegliederte Eigenanteil von Spoerli-Kreationen: Konzertantes (auch immer wieder Kammermusikalisches), Handlungsballette (auch Humoristisches), Klassiker, Bach, Strawinsky, die Prokofjew-Blockbusters, Balanchine, Amerikanisches (auch Cunningham, Tharp, Forsythe, jetzt auch Wheeldon – noch fehlt Robbins, auf Morris können wir gern verzichten), etwas Europa-Würze (van Manen, Kylián). Auffallend, was fehlt: die Engländer – kein Ashton, Cranko oder MacMiIllan – auch kein Béjart. Immer kommt es auf den musikalischen Gehalt an. Immer auf den Tanz. Beide prägen wesentlich die Identität des Zürcher Balletts.
Die fünfte Vorstellung des neuen Programms, das am 26. Februar Premiere hatte. Samstagabend. Volles Haus. Leider ohne Wheeldon, der krankheitshalber ausfiel. Interessant die wesentlich positivere Reaktion der Zürcher Kritiker auf Wheeldon gegenüber den Hamburger Kollegen. Sie sehen ihn nicht so sehr als Balanchine-Imitat, sondern als durchaus eigenständigen Weiterentwickler und Fortführer. Davon hätte ich mich gern überzeugt. Stattdessen als Ersatz „In den Winden im Nichts“, die sechste der Bachschen Solosuiten. Eine gute Visitenkarte für die Kompanie, ihre Homogenität, ihren hohen Energiepegel, ihre solistische Equipe.
Gern wiedergesehen Kyliáns 1981 für Stuttgart kreierte „Stepping Stones“, dieses archaisch-ritualistische Enigma, von den vier Zürcher Paaren zelebriert wie die Akolyten eines Mysteriums – sehr fremd, sehr cool, sehr distanziert. Es ist Osterzeit und da kam mir unwillkürlich die Enthüllung des Grals in „Parsifal“ in den Sinn. Und dann also Spoerlis „Les Noces“ – mit allen Beteiligten (Tänzern, Schweizer Kammerchor, Solisten, vier Klavieren, sieben Schlagzeugern samt Dirigent Peter Feranec) auf der Bühne, ohne dass es zu Engpässen gekommen wäre. Geschickte Raumgliederung von Florian Etti mit markant russischen Holzschnitt-Motiven. Russisch, ja – aber ein erfundenes Russisch (sogar mit dem Nijinska-Zitat der Pyramide, die auch Cranko im Ballsaal von Larina zitiert).
Die Zwangsverheiratung von Braut und Bräutigam mit nur einem Elternpaar, deren Starrheit sich erst allmählich lockert und in Glückserwartung übergeht. Dirk Seegers und Ana Carolina Quaresma machen das famos. Wie auch die Choreografie, die aus gebundenen Formen in immer freieren, immer dionysischeren Exaltationen eskaliert – immer ganz dicht an der Musik mit ihren jähen Aus- und Umbrüchen. Kraftstrotzend, energiegeladen. Fabelhaft! Die Jungens drillen den Boden förmlich mit ihren Stampfschritten, bohren sich in ihn ein. Tanztheater aus einem Guss! Hätte ich am liebsten gleich noch einmal gesehen. Sollte unbedingt auf Tournee gehen – ist dafür aber natürlich mit diesem Superaufgebot an Tänzern, Musikern und Sängern viel zu kostspielig. Formidabel!
Am Abend zuvor „La Favorite“, Donizettis 1840 für Paris komponierte Grand opéra – natürlich mit großem Ballett. Eine ziemlich krude Story um Liebe, Ehre, politische und kirchliche Macht. Von Marc Minkowski hinreißend dirigiert, mit einer Starperformance in der Titelrolle: Vesselina Kasarova. Das Ballett in Zürich dagegen auf Sparflamme. Minkowski dirigiert auch bei geschlossenem Vorhang so spritzig, so in die Glieder fahrend, dass man (ich) kaum stillzusitzen vermag. Die Balletteinlage im zweiten Akt, choreografiert von Avi Kaiser, der mit drei weiteren Herren und drei Damen auch als Tänzer beteiligt ist, ein kurioses Match- und Machtspiel mit Flamenco-Elementen. War offenbar auch schon bei der Uraufführung, choreografiert von François Decombe Albert, eine reine Routineangelegenheit, die Ivor Guest in seinem Standardwerk „The Romantic Ballet“ lediglich registriert, ohne sie besonders zu würdigen.
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