Ein überfälliges Thema
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Das Ballett Zürich feiert den Meister mit vier kontrastreichen Choreografien
Der in Prag geborene Choreograf Jirí Kylián ist vor kurzem 70 Jahre alt geworden und hat seine 100. Kreation geliefert – überwiegend Kurzballette. Von 1975-99 war er Direktor und Chefchoreograf beim Nederlands Dans Theater. Im März wird er in Paris in die Académie des Beaux Arts aufgenommen. Nun ehrt ihn auch das Ballett Zürich mit vier besonders gelungenen und typischen Kylián-Stücken unter dem Sammeltitel „Bella Figura“.
Alle vier Ballette lassen sich mit ein paar auffallenden Merkmalen in Erinnerung rufen: „Bella Figura“ (1995) ist jenes Stück, wo die Tanzenden in breithüftig gerafften roten Röcken über die Bühne schweben, Männer und Frauen meist mit nacktem Oberkörper. In „Stepping Stones“ (1991) stehen drei altägyptische Katzenkopf-Skulpturen in absteigender Größe links auf der Bühne. Mythische Stimmung breitet sich aus, wobei sich die Tänzerinnen auf Spitzen drehen. Eine Seltenheit bei Kylián, denn bei seinen klassisch inspirierten Balletten wird höchstens auf Halbspitze getanzt – so auch in „Bella Figura“.
In „Sweet Dreams“ (1990) geht es mitnichten um süße, sondern im Gegenteil um Alpträume. Trauer und Panik machen sich breit – unter Paaren voller Aggression, die ihre Machtansprüche haben und vor Erniedrigungen nicht zurückschrecken. In der Düsternis blitzen immerhin Spuren von Heiterkeit auf. Grasgrüne Äpfel werden angebissen, spielerisch herum balanciert, aber auch als gefährliche Wurfgeschosse missbraucht - Symbol für Verführung, Sündenfall und verlorenes Paradies.
Im Zürcher Programm geht dieses dunkle Stück nahtlos über in Mozarts „Sechs Tänze“ (1986), eine so leichtfüßige wie grotesk überdrehte Choreografie. Zum Losprusten! Getanzt wird in Kleidungsstücken à la 18. Jahrhundert: die Männer mit gepuderten Perücken, im Kontrast zu nackten Oberkörpern; oder in pompösen schwarzen Reifröcken, die sich zuweilen wie von selbst bewegen.
In Kyliáns Ballette kann man sich rasch und nachhaltig verlieben. Verlieben kann man sich auch in die Zürcher Tänzerinnen und Tänzer, äußerlich sehr verschieden, kräftig oder fein, groß oder klein – genannt seien etwa Elena Vostrotina und Yen Han, Jan Casier oder Tigran Mkrtchyan. Kyliáns Stil, von traditionellem Stamm ausgehend, aber in hundertfacher Verästelung ins Zeitgenössische ragend, liegt ihnen offensichtlich. Und Zürichs Ballettchef Christian Spuck liebt Kylián auch! Er hat in den letzten Jahren mehrfach Stücke von ihm gebracht. Wie übrigens schon Spucks Vorgänger Heinz Spoerli.
Jirí Kylián hat ein sehr persönliches Verhältnis zur Musik. In „Sechs Tänze“ (Sechs deutsche Tänze, KV 571) lässt der Choreograf die kleinen Schweinereien aufblitzen, die Wolfgang Amadeus Mozart in seinen Briefen an das Bääsle verriet. In „Sweet Dreams“ gelingt es Kylián, die schwere, komprimierte Musik von Anton Webern (Sechs Stücke für Orchester op.6b) transparent zu machen, ebenso in „Stepping Stones“, wo zu Webern-Kompositionen (Sechs Bagatellen für Streichquintett op.9) noch die verqueren Klänge von John Cages präpariertem Klavier kommen. „Bella Figura“ verwendet neben zauberhafter italienischer Barockmusik auch Klänge des 2009 verstorbenen Zeitgenossen Lukas Foss. Es sind sehr individuell gewobene Musik-Teppiche – in Zürich allerdings nur über Tonträger ausgebreitet.
Tänzerinnen und Tänzer, so hört man immer wieder, arbeiten gern mit Jirí Kylián, weil er trotz hoher Ansprüche die Einzelnen in den kreativen Prozess einbezieht, ihnen Luft zum Atmen lässt. Und was erwartet der Meister von den Tanzenden? In einem Interview mit dem Dramaturgen des Ballett Zürich, Michael Küster, sagt er: „Offenheit, positive Mentalität, Wahrhaftigkeit im Ausdruck, Zuverlässigkeit und Musikalität sind Eigenschaften, die mich bei ihnen begeistern.“ Dazu viel Sinn für Witz und Ironie, möchte man beifügen.
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