Kostümfest im Palais Garnier
Saisonbeginn an der Pariser Oper mit Lifar und Ratmansky
Serge Lifar, Star der letzten Jahre der Ballets Russes und langjähriger Direktor der Pariser Oper bis 1958, gehört zu den großen Figuren der Tanzwelt, die in relative Vergessenheit geraten sind. Dabei erregte Lifar seinerzeit nicht nur als Tänzer viel Aufmerksamkeit, sondern auch als Direktor und Choreograf. So erfand er beispielsweise eine sechste und siebte Fußposition und sorgte für die Einführung von Tanz als Lehrfach an Universitäten.
Nun, anlässlich des hundertsten Geburtstags Lifars vor einem Jahr, eröffnet das Ballett der Pariser Oper seine diesjährige Saison mit einer Hommage, die zwei Choreografien Lifars und eine Uraufführung Thierry Malandains vereint und damit sowohl Lifars Tradition feiert als auch sein Fortwirken als Inspiration zeitgenössischer Kreationen zeigen will. „Suite en Blanc“, das erste Ballett des Abends, ist ein Juwel des Pariser Repertoires, ein Stück reinen Tanzes in der Art von Balanchines „Sinfonie in C“ oder Harold Landers „Etudes“. 1943 entstanden, ist es das Ergebnis einer langjährigen Recherche des Choreografen über die Entwicklung der Technik des Balletts in den Vorkriegsjahren. Das Stück besteht aus einer abstrakten Folge verschiedener Variationen und Pas de Deux, in denen es Lifar darum ging, „schöne Visionen“ zu schaffen. Gewisse Leitmotive, wie beispielsweise das Überkreuzen der Arme hinter und unter dem Kopf, ziehen sich durch das Ballett und sorgen trotz aller stilistischer Experimentierfreudigkeit für seinen starken inneren Zusammenhalt. Wenn die Kompanie wie an diesem Abend in Hochform ist – von einigen Wacklern im Corps de Ballet abgesehen –, so ist dieses Stück vergnüglich wie bester Balanchine. Alle Solisten waren technisch bemerkenswert und schienen mit ihren Kollegen um höchste Perfektion und Virtuosität zu wetteifern. Muriel Zusperreguy bot eine Serenade voller natürlichem Charme, Myriam Ould-Braham führte den Pas de Cinq mit prickelnder Frische, und Agnès Letestu tanzte ihre sublime Variation der „Cigarette“ mit unnachahmlicher Eleganz. Darauf folgte, nach Jean-Guillaume Barts exzellenter Mazurka, ein von Aurélie Dupont und Manuel Legris mit lyrischer Hingabe interpretierter Pas de Deux, bevor schließlich die raffinierte Variation der Flöte der grazilen Isabelle Ciaravola das Finale einleitete.
Nach diesem Defilee neoklassischer Eleganz änderten sich Stil und Dekor radikal. Thierry Malandain, dem derzeitigen Direktor des Balletts Biarritz, von dessen vielversprechender Entwicklung man sich vor kurzem anlässlich einer Vorstellung der Truppe im Palais Chaillot überzeugen konnte, wurde die Aufgabe zuteil, Lifars Werken eine zeitgenössische Kreation zur Seite zu stellen. Dazu wählte er, in Anlehnung an Lifars Ballett „Icare“, das Thema des Ikarus und nannte sein Stück „L'envol d'Icare“. Bühne und Tänzer werden, in Kontrast zum akademischen Schwarzweiß des vorhergehenden Stückes, in grelle Sonnenfarben getaucht – vornehmlich Orange und Gelb – und vollführen zu Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher ein Erwählungsritual, das an „Sacre du Printemps“ erinnert.
Diese Mischung wird mit allerlei griechischen Mythen angereichert. So verkörpert Benjamin Pech, für den hier erstmals seit seiner Ernennung zur Etoile vor einem Jahr eine Rolle kreiert wurde, mit bewundernswerter Energie sowohl Ikarus als auch Theseus und den Minotaurus. Trotz einiger interessanter choreographischer Einfälle wie der V-förmigen Anordnung der Corpstänzer als „Flügel“ des Ikarus, eines gelungenen Pas de Deux zwischen Benjamin Pech und Mélanie Hurel-Ariadne und des Engagements der Tänzer gelingt dem Stück der im Titel angedeutete „Abflug“ ebenso wenig wie Ikarus selbst, der am Schluss recht diskret in der Kulisse verschwindet.
Die obskure Vermischung der Mythen und das etwas ziellose Schwanken zwischen Abstraktion und Narrativität sind dafür ebenso verantwortlich wie das gelegentliche Verschwinden der Choreografie hinter der Musik, die den Tanz manchmal wie reine Begleitung wirken lässt.
Den Endpunkt der Wanderung des Abends von Abstraktion zu Narrativität bildet Lifars 1944 geschaffenes, aber erst 1947 uraufgeführtes Ballett „Les Mirages“. Dieses Werk entstand in enger Zusammenarbeit Lifars mit dem Komponisten Henri Sauguet und Cassandre, der Bühnenbild und Kostüme schuf. Das Stück führt uns in eine Märchenwelt, in der ein junger Mann in den Palast des Mondes eindringt und dort verschiedenen Traumbildern begegnet. Dabei folgt ihm auf Schritt und Tritt sein Schatten, den er immer wieder abzuschütteln sucht, aber nach Verschwinden der Träume als seinen einzigen treuen Begleiter erkennt.
Kader Belarbi ist ein junger Mann voller dramatischer Intensität, die vor allem in den Momenten existenzieller Verzweiflung zur Geltung kommt. Delphine Moussin verkörpert seinen Schatten mit etwas zu trockener Strenge; neben ihnen brilliert vor allem Myriam Ould-Braham als zauberhaft-flatterhafte Chimäre. Mag dem heutigen Zuschauer diese Welt auch fremd oder gar wie eine exzessiv kostümierte Kuriosität erscheinen, die an manchen Stellen ungewollt komisch wirkt, so handelt es sich doch um ein überzeugend konstruiertes Werk mit einigen ergreifenden Momenten. Zu diesen gehören vor allem die Variation des Schattens, der Pas de deux des jungen Mannes mit einem Traumbild der Liebe und das an Roland Petits späteres Stück „Le jeune homme et la mort“ erinnernde Schlussbild, in dem der junge Mann seine vollkommene Einsamkeit erkennt. Vielleicht harren noch viele weitere Sequenzen dieser Art ihrer Entdeckung in den Tiefen des Pariser Repertoires, und es wäre zu wünschen, dass die Kompanie innerhalb der nächsten Jahre noch andere Werke Lifars zu neuem Leben erweckte.
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