Ein großer Künstler und Mensch
Der Tänzer, Choreograf und Ballettdirektor Ray Barra wird 90
Wiederaufnahme mit Natalia Kalinichenko, Tigran Mikayelyan und weiteren Debuts
Nach mehrjähriger Pause sorgte die Rückkehr des „Schwanensee“ auf die Bühne des Nationaltheaters selbstverständlich für ein ausverkauftes Haus. Ballettdirektor Ivan Liška exponierte Natalia Kalinichenko mit ihrem Münchner Debut als Odette/Odile erstmals in einer wichtigen Wiederaufnahme und gab Tigran Mikayelyan als Siegfried zum ersten Mal die Rolle eines Prinzen – beide Besetzungsentscheidungen ebenso mutig wie überfällig. Neu zu entdecken ist auch die erzählerische Ökonomie der Version dieser Petipa-Iwanow-Choreografie von 1895 durch Ray Barra genau 100 Jahre später: Eine dem Geschehen vorangestellte Szene macht klar, dass es in diesem „Schwanensee“ um Visionen, um Siegfrieds Psyche geht.
Dann heben sich die Schleier des dieser Dramaturgie wunderbar dienenden Bühnenbilds von John Macfarlane, und mit dem in die Realität zurückkehrenden Prinzen gelangt man mitten in das Fest, in dessen Verlauf ihm die königliche Mutter (erstmals Silvia Confalonieri, mit Callas-Profil Hoheit ausstrahlend) seine Verlobte präsentiert. Den langen Walzer dazu hat Ray Barra mit immer neuen Stafetten von Ensembletänzen im Wechsel mit Pas de six und Solos schwungvoll und abwechslungsreich gegliedert. Kaum hat Siegfrieds Freund Benno (Lukas Slavický) seine Freude am Tanz vermittelt und Tigran Mikayelyan bereits mit seiner 1. Variation die Erwartung tänzerischer Qualität hochgeschraubt, da trübt der von ihm halluzinierend geschaute Rotbart auch schon die Festfreude des Prinzen. Dieser Schatten verlässt ihn nicht mehr, wie heiter auch die Paare tanzen, und schon kündigt sich das Erscheinen der Verlobten an. Sie hat natürlich keine Chance, zu dominant wirkt noch aus der Eröffnungsszene Odettes bezaubernder Port de bras im Bewusstsein nach.
Dennoch: Ivy Amista ist bei ihrem Debut eine sehr schöne Verlobte. Weit schwangen ihre italienischen Fouettés, rasant war das Tempo ihrer Fußarbeit. Vor allem aber traf sie den Wechsel zwischen naivem Liebenwollen und unbegriffenem Verlorensein. Wie aus selbstauferlegtem Kerker zur Emotionalität befreit, stellte sie dabei, statt sich wie früher oft zu überhasten, das Lyrische der Empfindungen einer jungen Frau dar, die ihren künftigen Mann bezaubern möchte, dazu wieder und wieder neue Hoffnung schöpft und diese angesichts des abwesend/abweisenden Prinzen am Ende verliert.
Tigran Mikayelyans Siegfried leidet dezent darunter, wie ihn die Geistesabwesenheit überkommt, versucht erfolglos sich dagegen zu wehren und bleibt allein zurück. In seiner Variation verdeutlichte er mit wunderbar expansiven Schwüngen und Arabesken seine Verstrickung in Träumerei und Sehnsucht, und das Duett mit dem hünenhaften Marlon Dino, der als Rotbart überzeugend debütierte, zog auch die Zuschauer in Siegfrieds Träumerei hinein …
Dann kommen sie, die Schwäne, zuerst Odette: Natalia Kalinichenko tanzte sie mit jedem Schritt punktgenau auf die Musik, ihre ängstliche Aufregung durch minimale Kopfbewegungen wie zum Glätten des Gefieders zusätzlich dramatisierend. Rotbart unterbricht jäh ihre Annäherung an Siegfried, kommandiert die übrigen Schwäne herbei, während der Prinz in Odette das Bild seiner Sehnsucht erkennt. Bei der Erzählung von ihrer Verzauberung bewies Natalia Kalinichenko, wie ihre russische Schule die stilistisch sichere Koordination aller Bewegungen gewährleistet. Ihr Tanz ist nicht durch die Höhe der Beine oder die Gelenkigkeit spektakulär, sondern das Kostbare liegt hier in der durchgängigen künstlerischen Ausführung und gedanklichen Durchdringung.
Demgegenüber beeinträchtigte stilistischer Eigenwille mancher Schwäne, zwar nur ganz leicht, die Geschlossenheit des Corps de ballet, und bei den Kleinen Schwänen glichen sich trotz präziser zeitgleicher Schritte die Haltungen von Kopf und Oberkörper nur äußerlich.
Auf dem Ball des 3. Aktes, dessen Realität auf den von seinem Traumbild noch benommenen Prinzen einstürzt, zeigte Ivy Amista als Verlobte, wie Siegfrieds Geistesabwesenheit ihr immer wieder einen Stich versetzt, sie sich aber stimmungsmäßig auf der Höhe ihrer Erwartungen zu halten sucht – tänzerisch und darstellerisch bisher das Beste der jungen Brasilianerin. Der Spanische Tanz hatte Feuer, der Russische Tanz zeigte das kultiviert gefasste Aufblühen der Leidenschaft, kraftvoll geschmeidig zelebriert von Valentina Divina und Erkan Kurt. Der Italienische Tanz mit Lukas Slavický und Roberta Fernandez sprühte frisches Temperament, doch … Siegfried bleibt mit sich allein.
Da erscheint der Schwarze Schwan: Natalia Kalinichenkos Ausstrahlung als Odile, ob ihrer Möglichkeiten über ihn triumphierend, mit ihnen spielend und fast spöttisch Bewegungen Odettes zitierend, war souverän. Tänzerisch beeindruckten beide Protagonisten mit vollendet schöner Linie, er mit einem Feuerwerk von hohen Sprüngen und einer taktgenau peitschenden Manege, sie mit ihren exakt in alle acht Richtungen variierten Fouettés.
Auch der Schlussakt entwickelte sich dramatisch. Nach der Hingabe der Großen Schwäne (Séverine Ferrolier und Katharina Sobotka) an das elegische Adagio der Streicher ertanzte sich Natalia Kalinichenko mit ihrer konzentrierten Melancholie die Autorität einer Schwanenkönigin. Schon geht Odile als Opfer im Meer der Schwäne unter, da kommt Siegfried, findet sie. Wie beide die Aspekte der Schuld, Trauer, Resignation und Versöhnung durchtanzten, berührte. Im hochdramatischen Trio mit Marlon Dinos energischem Rotbart wurden sie vom Zauberer nur mit Hilfe der ihm hörigen Schwäne besiegt.
Mit Tigran Mikayelyan hat das Bayerische Staatsballett einen Virtuosen ersten Ranges in seinen Reihen, dem seine Variationen unglaublich leicht zu fallen scheinen. Erstmals als Prinz eines klassischen Balletts eingesetzt, schaffte er bei aller Introvertiertheit, die diese gigantische Rolle verlangt, das darstellerische Kunststück, die psychische Not eines an seiner seelischen Kompliziertheit zerbrechenden Menschen spannend nach außen zu tragen. Das Angebot von Natalia Kalinichenkos starker Interpretation war so reich an Details, dass sich nun jeder neu deuten mag, was es mit dem Widerstreit zwischen Schwarzem und Weißem Schwan in Siegfrieds Imagination wohl auf sich hat. Wem das zu viel ist, kann genießen, denn Ray Barras mitreißend arrangierte Münchner Fassung zeichnet sich durch narrative Dichte und elegante Übergänge aus. Für nahtlose Anschlüsse sorgte auch Michael Schmidtsdorff, der erstmals das Bayerische Staatsorchester leitete, dabei die Tänzer hellwach unterstützte und Tschaikowskys Werk sehr einfühlsam in den Dienst des Tanzgeschehens stellte.
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