Selbstbefragung und Eurotrash

„Lehmen lernt“ und Meg Stuart bei der Tanzplattform

oe
Stuttgart, 26/02/2006

Großes Kompliment an Bettina Milz und ihre Equipe! Sie haben da ja einen wahren Tanzmarathon auf die verschiedenen Bühnen des Stuttgarter Theaterhauses gewuchtet und so einen fantastischen Überblick über die Vielfalt der deutschen Tanztheaterszene ermöglicht. Und damit auch die kontroversesten persönlichen Geschmacksrichtungen und Vorlieben bedient. Möglicherweise ja auch die meinen, denn das Finale steht ja noch bevor. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich nie.
Wie ist das aber auch organisiert – die Logistik, die dahinter steht, der Apparat, der diesen reibungslosen Ablauf garantiert! Wenigstens hat es den Anschein für denjenigen, der bloß seine vorbestellten Karten abholt und dann die einzelnen Darbietungen vor sich abrollen lässt. Allein diese gigantische Theatermaschinerie Meg Stuarts von Berlin nach Stuttgart zu verfrachten. Allein diese beiden Zentralveranstaltungen am Samstag – welch ein Gegensatz! Am Spätnachmittag die One-Man-Show von Thomas Lehmen: „Lehmen lernt“. Und dann am Abend das Monster-Unternehmen „Replacement“, sozusagen Meg's Horror-Show für acht Performer und hinter der Szene mindestens doppelt so viele Dienstleister (ob von denen wohl je jemand auf die Idee käme, zu streiken?).

Zunächst also Lehmen! Vor dem konnte man regelrecht Angst kriegen, wenn man seinen Kommentar, und erst recht, wenn man die Erläuterungen seines Sprechers (Schreibers?) las. Alles halb so schlimm! Auch der angekündigte Lernprozess. Der Mann ist ein Allround-Performer, ein Entertainer. Wie er da mit seinen beiden Rumbakugeln in den Händen den Raum umkreist, kann man ihn für einen Schamanen halten, der die Opferstätte weiht. Oder für einen Schlagzeuger, der auf einem unsichtbaren Instrument spielt. Doch dann geht es erst richtig los. Und wir absolvieren mit ihm die einzelnen Stationen seines Lebens, das offenbar ein einziger Lernprozess ist. Und der ist so vielfältig wie das Leben selbst. Wobei der Tanz – oder was man gemeinhin unter Tanz versteht – eine eher geringe Rolle spielt. Was Lehmen vorführt ist eine Art Talkshow mit sich selbst. Eine Selbstbefragung. Die ihn immer neue Aspekte seines Daseins entdecken lässt. Dazu muss man freilich so vielseitig begabt auf die Welt kommen wie er. Und dann diese Begabung technisch so perfektionieren wie er. Dazu braucht es Witz und Intelligenz (ist das Eine ohne das Andere überhaupt möglich?). Die besitzt er allerdings im Übermaß. Und unterhält uns, dass man ihn glatt für ein Mitglied der großen Chaplin-Familie halten könnte – wenn man seinen Stammbaum nicht noch weiter zurückverfolgt, bis zu den Nestroy, Labiche und Schönthan (das ist der Mann vom „Raub der Sabinerinnen“). Nein, mit Stefan Raab hat er nichts am Hut, gottlob!

Welch ein Kontrast zu Meg Stuarts „Replacement“. Welch ein Aufwand – und wofür? Für zwei Stunden Langeweile, verursacht durch theatralische Bulimie! Und dafür haben sie in Berlin ein geschlagenes Jahr gearbeitet? Ist ihnen denn darüber jegliches Gefühl für eine der wichtigsten Theatertugenden, das Timing, verloren gegangen? Wenn Sie das in Amerika zeigten, würde man ihre Produktion als typisch Eurotrash brandmarken. Bloß, dass die Lady ja ursprünglich aus Amerika kommt. Und was bietet ihr „Replacement“ – laut Oxford Duden ja Ersatz, Ersetzen? Hat Europa ihren ursprünglichen Go-West-Pioniergeist derart verdorben? Hatte sie vor, Polanskis „Tanz der Vampire“ zu übertreffen? Durch ein Ballett der Monster? Das ist ja seit Glucks Tanz der Furien via Gounods Walpurgisnacht und Strawinskys Kastschei-Klapperungetümen, nicht zu reden von den neuerdings so populären Dracula-Exorzisten, ein alter Theaterhut. Und was nimmt man von diesen endlos sich dehnenden zwei Stunden mit nach Hause? Die Erinnerung an die Bühnenarchitektur einer kreisenden Hamster-Trommel. Eine Behausung, die wie ein Perpetuum mobile um sich selbst kreist. Als Abbild unserer Welt? Hatten wir schon, wesentlich sparsamer und entsprechend eindrucksvoller in Dieter Dorn und Jürgen Roses Bayreuther Inszenierung des „Fliegenden Holländer“, anno 1990!

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