Augenschmaus für Fotografen
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig
Grandioser Bildteppich um Liebe, Trauer, Tod
Ein Gerüst aus drei Etagen, verhüllt von schwarzen Membranen, und davor ein Klapphocker strukturieren den Bühnenraum (Jaffar Chalabi), in den hinein Nacho Duato ein Ballett merkwürdigen Titels stellt. „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ besteht aus zwei Teilen, die sich zur Musik Bachs so atemberaubend ins Verhältnis setzen, dass man über das Namensetikett nicht mehr nachdenken mag. Spaniens hochdekorierter Starchoreograf, ausgebildet in London, in Brüssel bei Béjart und in New York, Tänzer dann in Jirí Kyliáns Nederlands Dans Theater und dort auch zum Tanzschöpfer gereift, hat für seine 1999 entstandene Bach-Adaption nicht von ungefähr im Jahr darauf den als Ballett-Oscar gehandelten „Benois de la Danse“ erhalten. In dem abendfüllenden Werk stellt er Bach als Figur auf die Szene, ohne dessen Lebensgeschichte zu erzählen oder sentimental zu werden, bringt sich selbst als Rahmengestalt ein und huldigt so gedankentief wie tanzintensiv Bachs grandiosem Musikkosmos.
Abgewandt betritt als erster Duato die Bühne, tastet sich mit tierhaft ruckenden Händen und schlaksiger Körpergeschmeidigkeit nachdenklich an die Aria aus den Goldberg-Variationen heran. Bach selbst mit weißer Perücke und Ausgehrock wird dem mehrfach Sinkenden dabei Haltegriff und Ballettstange, ehe eine Kurtine den Suchenden fortwischt. Der Komponist an der Rampe verbeugt sich und gibt die Szene frei zu einem Puzzle aus 13 Teilen. Wie seine Noten dirigiert er die Gruppe im knapp sitzenden schwarzen Dress, wie einzelne Instrumente heben sich Tänzer daraus hervor. Eine Frau wird ihm Cello, dem er mit dem Bogen und nicht unerotisch Klang entlockt; ein anderer Mann handhabt seine Partnerin mit Bewegungswitz als Cembalo. Zu einer Polonaise pendeln zwei Männer in stilisierter Kurzkrinoline zwischen Zitaten höfischen Tanzes und der Impulsfortgabe des Breakdance. In ihrem Duett umspielen zwei Frauen den Klang von Cembalo und Flöte, greifen in Handbewegungen den Anschlag des Spielers vom Band auf.
Unangestrengt, heiter, souverän, unehrfürchtig und dabei hochmusikalisch gleiten die Beiträge ineinander über. Das Auge mag sich an den tänzerische Abfolgen von immensem Tempo, mitreißender Fließkraft und komplizierter Verschachtelung nicht sattsehen. Im Allegro fliehen Paare mit Zöpfen aus einem fröhlichen Wettstreit auf das Gerüst, dessen Membrane sich gewellt haben und das nun wie ein mehrschichtiger geometrischer Park zum Lustwandeln wirkt. In soviel Leben hinein meldet ein weiblicher Tod seine Rechte an. Frauen flüchten sich darüber in exaltierte Posen barocker Empfindsamkeit. Zum flinken Satz eines Konzerts für zwei Violinen werden aus Bögen Floretts im Kampf um die rechten Noten; ein Menuett aus dem Notenbüchlein der Anna Magdalena scheint Bach seine Muse und Gemahlin zu bescheren. Am Ende schluckt die Musik in Gestalt einer schreitenden Reihe alle Liebespaare.
Prägen Leichtigkeit und Lebenszugewandtheit diesen ersten Teil von Stundenlänge, so liegen über dem achtteiligen Halbstünder nach der Pause Schwere und Trauer. Auch wenn sich zunächst ein Menschenpaar wie Adam und Eva auf Glückssuche begibt, sich dann zu einer Orgeltoccata unter sieben Männern in umhüllenden Kleidern einer von diesem Zwang befreit, sieben Frauen in Schleierröcken mit skurrilen Armhaltungen wie Vögel zu fliegen suchen - der Tod ist allgegenwärtig. Als erstes Opfer entwindet er Bach aus einer Trioform seine Frau, gefolgt von einer Totenklage. Choreografisch bildmächtig gelingt das Finale. Aus einem Pulk tanzen sich die Paare in polyphoner Verschränkung den Schrägen des offenen Gerüsts entgegen, auf denen sie als verstorbene Seelen defilieren. Ein hängendes schwarzes Tuch dreht sich vor dem Komponisten wie ein Zeitbohrer in die Tiefen der Unendlichkeit, bis der Tod den Lebensfaden abreißt und die Seelen auf ihrem Gang erstarren. Während sie weiter aufwärts streben, nimmt Duatos Figur ihr Anfangsvokabular wieder auf. Dann umfängt der Tod auch sie.
Nirgendwo nähert sich der Choreograf seiner Bach-Melange aus Instrumentalsolo, Konzert, Choral mit veräußerlichter Bravour. Die Visionen entwickeln sich in stillem Einverständnis mit der Musik zu einem originellen, organischen, oft skurrilen Tanzgewirk von nachhaltigem Eindruck. Zählt Duato mittlerweile zur Crème europäischer Choreografen, so hat er sich in der Compañia Nacional de Danza, deren Leiter er seit 1990 ist, ein ideales Medium seiner Intentionen geschaffen.
Nochmals 7.7., 20 Uhr, Lindenoper Berlin, Kartentelefon 20 35 45 55
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