Plädoyer gegen Rassismus im Tanz
Neu erschienen: die Biografie des kubanischen Tänzers Osiel Gouneo
Formen des Eskapismus beim neuen Dreiteiler „Duato/Skeels/Eyal“ beim Bayerischen Staatsballett
Nicht alle Zuschauer*innen halten bei der Premiere des Dreiteilers „Duato/Skeels/Eyal“ bis zum Ende durch. Dabei braucht man bei „Autodance“ – der bislang zweiten Einstudierung eines Sharon Eyal-Stücks durch das Bayerische Staatsballett – gar nicht unbedingt zu den eigens angebotenen Ohrstöpseln greifen. Die pulsierenden, sich langsam Schicht für Schicht zu elektronischer Klangfülle überlagernden Technobeats des seit 2005 mit Eyals L-E-V Dance Company zusammenarbeitenden Musikers, Schlagzeugers und DJs Ori Lichtik schallen in noch gut erträglicher Lautstärke durch den Zuschauerraum des Nationaltheaters. Was sich dazu allerdings auf der Bühne bewegungstechnisch abspielt, hat ästhetisch einen famos eigenwilligen und schrägen Charakter.
Die Beine überdehnt nach vorne gestreckt betritt Severin Brunhuber die Bühne. Gespreizt dahinschreitend zieht der Tänzer seine Kreise – den Kopf ab und an wendend wie ein stolzer Pfau. Alle Todestrübsal der beiden vorangegangenen Choreografien – das vor 23 Jahren entstandene „White Darkness“ von Nacho Duato und Andrew Skeels‘ Science-Fiction-Ballett-Uraufführung „Chasm“ – ist mit einem Schlag wie weggewischt. Das ursprünglich 2018 für und mit Göteborgs Operans Danskompani kreierte Stück „Autodance“ verbreitet in seiner frappierenden Überspanntheit eine berauschende Wirkung. Nichts zählt mehr – außer das immer wieder im Gleichschritt zelebrierte Schillern von in reine Körperlichkeit verpackten Persönlichkeiten. Doch wer sich vom stilistisch-extremen Drive der Tänzerinnen und Tänzer mit hypnotisieren lassen will, muss ihren Look (hautfarbige, schulter- und oberschenkelfreie Trikots, dazu weiße Kniestrümpfe), ein bisweilen seltsam-verdrehtes Gebaren und Ausbrüche impulsiven Grimassierens ertragen können.
Elvina Ibraimova gesellt sich zu Brunhuber. Erst wirkt sie wie ein irrlichternder Störfaktor, dann wird sie für Augenblicke zu seiner Synchronpartnerin. Weitere zwölf Protagonist*innen schließen sich dem endlosen Catwalken auf halber Spitze mit leicht gebeugten Knien und hohlkreuzartig durchgebogener Wirbelsäule an. Ihre formgeschwollenen Egos sind reicher Nährboden für diese Münchner Ersteinstudierung. Mittendrin – bevor Eyal und ihr choreografischer Partner Gai Behar die Protagonist*innen mehr und mehr zu Linien und in Diagonalen zwingen – nimmt plötzlich ein Solo enorm viel Raum ein. Und das, obwohl Eline Larrory mit ihren Füßen recht lange an einem Ort haften bleibt und sich bloß ihre Silhouette im Licht in alle möglichen Richtungen verbiegt. Dank solcher Momente vermag „Duato/Skeels/Eyal“ als Ganzes zu fesseln.
Der Abend beginnt mit einem grauenhaft-schönen Wiedersehen: „White Darkness“ („Weiße Dunkelheit“) ist eine berührende Parabel auf die verführerischen wie zerstörerischen Einflüsse von Drogen. 2008 war Nacho Duatos Hommage an seine verstorbene Schwester schon einmal in München zu sehen. Damals gastierte im Prinzregententheater die Madrider Compaňia Nacional de Danza, die Duato 20 Jahre lang überaus kreativ – wenngleich stark von Jiří Kylián und dem Nederlands Dans Theater geprägt – geleitet hat. Ins Repertoire des Bayerischen Staatsballetts übernommen hatte man daraufhin den sinnlich-poetischen Bach-Zweiteiler „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ des Spaniers.
Nun eröffnet das klassisch-athletisch-fließende und szenisch eindrückliche Stück „White Darkness“ einen insgesamt recht düsteren Abend, dessen inhaltliche Klammer drei thematisch völlig verschiedene Aspekte von Weltflucht bilden. Duato, der seine Choreografien – wie viele andere tanzschöpferisch tätige Zeitgenossen auch – gerne in Dunkelheit hüllt, hat im herabfallenden Sand ein wunderbar eindringliches Symbol für Rauschmittel schlechthin gefunden. Die Tänzer nehmen ihn auf, lassen sich ihn durch die Finger und gegenseitig in die Hände rieseln, werfen ihn über einer Gruppe aus oder verteilen ihn mit ihren Bewegungen im Raum. Atmosphärisch packend wird so von menschlicher Schwäche, Abhängigkeit, Hoffnung, Leidenschaft, beschwipster Albernheit, Orientierungslosigkeit, Verlust und Tod erzählt.
Zu den melancholisch-herben, rhythmisch treibenden Streicherklängen des Waliser Komponisten Karl Jenkins werden fünf tolle Paare ins Rennen geschickt, die mit federleichten Sprüngen, rasanten Duetten, bizarrem Gliederschütteln, flirrenden Zuckungen oder in schier vorbeirauschenden Soli, kurzen Pas de Deux und Gruppenmomenten verschiedenste Stimmungen und Gemütslagen durchleben. Das Herz der Zuschauer lassen in diesem Halbstünder vor allem Madison Young und Jakob Feyferlik flimmern. Durchgehend physisch und emotional angespannt geben sie ein überragendes Hauptpaar ab.
Sie mag und kann vom harten Stoff nicht lassen. Seine Rolle oszilliert – ebenso wie seine Härte beim Zupacken in gemeinsamen Drehungen und tänzerisch immer drastischeren Verstrickungen. Er ist Dealer, Todesengel und Freund. Zurück bleibt Schmerz. Langsam zwingt ein Wasserfall aus Sand die Frau in ihrem weich mitschwingenden Abendkleid zu Boden. Das Premierenpublikum applaudierte zu Recht lang, heftig und hingerissen. Der hier entfachten Sogkraft an Fatalität kann man sich kaum entziehen.
In „Chasm“ – dem finsteren Mittelteil des schlicht nach den beteiligten Choreografen benannten Triple Bill – wird diese bedrückende Aura noch weiter gesteigert: Andrew Skeels, der in Kanada seine eigene Kompanie Skeels Danse Montréal leitet, stellt eine sich in ferner Zukunft abspielende und letztlich ausweglose Apokalypse nach. Scheinwerferschienen hängen anfangs tief von der Decke herab. Die Bühne wird – akustisch untermalt von den filmisch bedrohlich-düsteren Klängen des französischen Komponisten Antoine Seychal – suggestiv zum feuchtkalten Höhlensystem. Nach und nach finden sich evolutionär mutierte Gestalten ein, die sich an die lichtkarge und lebensfeindliche Umgebung angepasst haben. Dank der Kostüme sind ihre Körper verformt, Haut und Haare befleckt von einer Schicht aus Schmutz, Pilzbewuchs oder Flechten.
Die Gruppe aus 20 Tänzerinnen und Tänzern stimmt sich auf ein gemeinsames, rituelles Bewegungssystem ein. Breitbeinig, mit wiegenden Oberkörpern formieren sie wellenartig immer neue Konstellationen. Coup der ensemblestarken Choreografie, die nur selten von solistischen Einwürfen oder physischen Dialogen quasi „a part“ begleitet wird, ist die Verve, mit der sich die Interpret*innen auf ihre Verwandlung in eine andere Wesenhaftigkeit stürzen. Kollektiv lassen sie im Kampf gegen ihren Untergang allmählich eine mächtige Stimmung aufkommen. Sie blicken zur Decke, tuscheln und bündeln aufs Neue ihre Energie.
In einem pulsierenden Ring aus ineinander verketteten Beinen und Armen verschmelzen ihre Kräfte zu einer dekorativen Orgie. Das Gestänge verschwindet. Im Hintergrund tut sich ein Riss (englisch: „chasm“) auf. Doch die nun eindringende Helligkeit bringt den Tod. Ein letzter Bewohner strebt dem Ausgang zu. Vergeblich reckt er die Hände. Der Vorhang fällt, bevor es ihm gelingt. In Skeels choreografischem Debüt für das Bayerische Staatsballett – einem verhalten-explosiven Endzeitszenario – ist es schlecht um die Menschheit bestellt.
Wie ein Manifest menschlicher Selbstbestätigung erscheint daraufhin Sharon Eyals an den Schluss gestelltes „Autodance“: Tanz, der seine Energie aus sich selbst schöpft. Das kuriose Stück ist eine kinetisch ganz spezifische Hymne auf die eigene Physis. 40 Minuten lang wird einzig und allein besttrainierte Körperlichkeit präsentiert und Ausdauer demonstriert. Zum Schluss verschwimmen zwar die in Reih und Glied nach hinten abgehenden Tänzer regelrecht im Nichts, aber das gehört wohl zu jeder Form von Ekstase.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments