Die Geister der Ahnen
Schachspiel und tanzende Hände: Sidi Larbi Cherkaoui gastiert mit „Play“ bei den Schlossfestspielen
Sidi Larbi Cherkaoui mit „Myth“ bei den Schlossfestspielen
Da haben sich die Stuttgarter Ballettfans, die an diesem Freitagabend unbedingt bei der Wiederaufnahme des ach so lange entbehrten „Schwanensee“ dabei sein mussten, um das aufregendste Tanzspektakel dieses Sommers gebracht: das Gastspiel von Sidi Larbi Cherkaoui mit seiner funkelnagelneuen „Myth“-Produktion bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen. Auch bis zu ihnen sollte sich ja inzwischen herumgesprochen haben, dass dieser belgische, gerade mal einunddreißig Jahre alte Choreograf, Sohn einer flämisch katholischen Mutter und eines muslimischen, aus Marokko stammenden Vaters, zu den kreativsten Persönlichkeiten der weltweiten Tanztheaterszene gehört: ein Repräsentant des Multikulti im Zentrum des Clashs der Kulturen – und was könnte im Augenblick nicht nur auf dem Theater aktueller sein!
Es ist wahrlich atemberaubend, was dieser Mann mit seinen vierzehn Tänzern und sieben Musikern zwei pausenlose Stunden lang auf der Bühne anstellt. Es mag nicht jedermanns Geschmack sein – der meine ist es ganz sicher nicht –, doch waren es nur ganz wenige Besucher, die entnervt die Vorstellung verlassen haben. Die geblieben sind, sahen sich mit einem tänzerischen Spektakel konfrontiert, das wie eine Sturzflut über sie hereinbrach – in einem geschlossenen Raum, dessen Rückwand von einer riesigen Bibliothek beherrscht wird, mit einem geschlossenen Tor, das sich erst ganz kurz vor Schluss öffnet und den Blick in einen Freiraum schweifen lässt, den jeder nach seiner Phantasie interpretieren mag, und der vielleicht irgendwo zwischen Himmel und Hölle angesiedelt ist.
In den unzähligen Büchern dieser Bibliothek scheint die gesamte Weltkultur gespeichert zu sein – von ihren Anfängen, lange vor Christus, bis in die unmittelbare Gegenwart der Pop-Trivialmythen. Und darum erschien sie mir wie die legendäre Bibliothek von Jorge Luis Borges und seiner Erzählung „Die Bibliothek von Babel“. Doch ist hier nicht nur die Literatur von den Stammesmythen der Urbevölkerung bis zu Henry Miller und Jean Paul Sartre gespeichert, die alle auch zitiert und in Leuchtschrift in rasantem Tempo abgespult werden, dass man mit dem Lesen kaum noch mitkommt, sondern auch die Musik der Jahrhunderte (darunter auch die verführerischen Madrigale des Monteverdi-Zeitalters) sowie die bildende Kunst von den mittelalterlichen Bilderzyklen über Caravaggio bis in die Gegenwart, asiatische Kampfspiele, Afrikanisches, die christliche Passion – wahrlich eine Enzyklopädie der Weltkultur, die indessen ständig, von Anfang an bis zum Schluss, von den schwarzen Höllenhunden bedroht wird.
Waren die bei Alain Platel, bei dem Cherkaoui in die Schule gegangen ist, in seinem Stück „Wie Mozart auf den Hund kam“ noch wirkliche Hunde, so sind es bei Cherkaoui die zu Tänzern gewordenen Hunde, die sich in die realen Gestalten verbeißen, ausgesprochene Kampfhunde, die viel gefährlicher sind als die domestizierten Hunde – wahrliche Höllenhunde, wie sie bei Dante vorkommen (auch der wird zitiert), die den Büchern entsprungen zu sein scheinen und im Freigehege der Bühne ihr Unwesen treiben. Hunde – nicht doch die schwarzen Schattengestalten, die uns, jeden von uns, als ständige Begleiter der Versuchungen des Bösen durch unser Leben begleiten? Es ist ungeheuerlich, was Cherkaoui sie aufführen lässt – man fragt sich, wie er sich eine solche Choreo-, nein: Canegrafie einfallen lassen konnte, wie die Tänzer, die sie ausführen, sie in ihrem Gedächtnis speichern können. Wie mag es in Cherkaouis Phantasie, in seinen Träumen aussehen – wie bei einem Meeting von Hieronymus Bosch, Matthias Grünewald und Salvador Dali mit den Schergen von My-Lay, Guantanamo und Darfur? Na ja, vielleicht ahnten diejenigen, die sich für „Schwanensee“ entschieden haben, ja bereits, was ihnen an diesem Abend im Ludwigsburger Forum bevorstand!
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments