Meditative Bodenpflege, horizontales Irgendwas und eine kleine, feine Show
Alice Chauchat, Arto Lindsay/Richard Siegal präsentieren neue Arbeiten beim Festival „Tanz im August“
Tanz ist immer auch ein Nachdenken über den Körper, seine Möglichkeiten, Begrenzungen und die Bilder, die wir uns von ihm machen. In ihrem Stück „The Breast piece”, das an diesem Dienstag und Mittwoch bei Tanz im August gezeigt wird, entwickeln Alice Chauchat und Frédéric Gies ausgehend von dem „weiblichsten” aller Organe eine handfeste Reflexion über Körperklischees, die den Zuschauer kinästhetisch miteinbezieht. tanznetz.de sprach mit den beiden Tänzer-Choreografen über alternative Arbeitsstrukturen, Körperpraktiken und die Konstruktion des weiblichen Körpers.
Bevor wir über euer Stück „Breast piece” reden, erstmal eine allgemeinere Frage: Ihr gehört beide zu einem Künstlerkollektiv namens „Praticable”. Was ist das genau für eine Struktur?
Frédéric Gies: „Praticable” besteht aus fünf Personen, die alle Tänzer und Choreografen sind: Alice, ich, Isabel Schad, Frédéric de Carlo und Odile Seitz. Es wurde vor einem Jahr gegründet, um eine Form für etwas zu schaffen, das bereits geschah: Wir trafen uns regelmäßig, um gemeinsam mit Körperpraktiken zu experimentieren, und jeder einzelne von uns sah sich häufig die Arbeiten der anderen an. „Praticable” ist also eine Art lockeres Kollektiv.
Alice Chauchat: Einerseits geht es darum, zu fünft eine Körperpraktik zu teilen, voneinander zu lernen und sich gemeinsam weiterzuentwickeln – und andererseits darum, Stücke zu machen, die sich aus diesen Praktiken entwickeln. Es sind aber keine wirklichen Kollektivstücke, da schon immer klar definiert bleibt, wer der Autor ist.
Frédéric Gies: „Praticable” geht in seiner Arbeit von der Körperpraktik aus und entwickelt daraus dann die Darstellung, die Repräsentation. Nicht umgekehrt. Damit ist auch eine Reflexion über Körperpraktiken verbunden: Was steht da politisch auf dem Spiel? Das Wort Körper-„Praktik“ steht im Gegensatz zu Körper-„Technik“, z.B. einer Tanztechnik, einem choreografischen Stil. Praktiken können keine besonderen Charakteristika zugeschrieben werden.
Besteht der Unterschied auch darin, dass eine Technik oft darauf abzielt, den Körper zu dominieren?
Alice Chauchat: Ja, eine Technik dient oft dazu, ein Ideal zu erreichen. Ein Ideal von Bewegung, das ganz klar festgelegt ist. Also können die Körper der Tänzer nur scheitern, denn niemand ist ideal. Dennoch sind alle Anstrengungen darauf gerichtet, diesem Ideal so nahe wie möglich zu kommen. Wir interessieren uns mehr für andere Möglichkeiten, mit unserem Körper zu arbeiten – ganz ohne Ziel und Idealvorstellung.
Frédéric Gies: Bisher haben wir viel mit den Praktiken des Body Mind Centering (BMC) und der Contact Improvisation gearbeitet.
Alice Chauchat: BMC ist extrem präzise, und man kann damit eine unglaubliche Menge Sachen machen. Anders als bei anderen Ansätzen, die auf eine Uniformisierung der Leute abzielen, bilden sich hier eher deren Eigenheiten heraus. Und in diese Richtung bewegen wir uns auch.
Neben der Betonung der Praktiken sucht ihr auch nach neuen Möglichkeiten der künstlerischen Produktion und Präsentation...
Alice Chauchat: „Praticable” ist ursprünglich als eine Struktur des Austausches gedacht. Das betrifft auch die Produktionsmittel. Wenn wir an einem choreografischen Projekt arbeiten, planen wir im Budget immer eine Arbeitsetappe ein, an der alle Mitglieder des Kollektivs beteiligt sind. So bleibt auch der Fluss von Weitergabe und Entwicklung der Praktiken erhalten.
Gleichzeitig haben wir das Prinzip etabliert, dass wir jedes Mal, wenn ein aus „Praticable” entstandenes Stück gezeigt wird, zuvor einen bis zu 20minütigen Auszug aus einem anderen „Praticable”-Projekt präsentieren. Das macht die Arbeiten sichtbarer und gibt dem Publikum die Gelegenheit, am gleichen Abend zwei Stücke zu sehen, die im selben Kontext entstanden sind.
Frédéric Gies: Es geht uns auch darum, zu zeigen, dass man mit denselben Werkzeugen sehr unterschiedliche Sachen machen kann.
Alice Chauchat: Vor „Breast piece” zeigen wir diesmal einen Ausschnitt aus Freds Soloarbeit „Dance” – allerdings in einer Trio-Version.
Jetzt also zu „Breast piece”: Warum habt ihr beschlossen, euch in einer Arbeit mit der weiblichen Brust zu beschäftigen?
Alice Chauchat: Das ergab sich aus dem Umgang mit BMC. Da geht es einerseits um den Körper in seiner reinen Materialität – und andererseits funktioniert alles über die Kraft der Vorstellung, da man den Sitz des Organs, mit dem man arbeiten möchte, im Geist visualisieren muss, um es auch spüren zu können. Dies warf einige Fragen auf, was die Konstruktion dieses Körpers angeht – auf sozialer, kultureller und persönlicher Ebene. Fred und ich hatten jeder für sich zuvor schon einige Stücke gemacht, in denen es um Genderfragen ging. Und die Brust erschien uns als exemplarisches Material: Einerseits ist es eine anatomische Tatsache, dass Frauen Brüste haben. Sie sind ein entscheidendes Attribut des weiblichen Körpers. Auf der anderen Seite sind wir beide ziemlich davon überzeugt, dass der weibliche Körper, ebenso wie der männliche, ein konstruierter Körper ist. Er reicht schon aus, einfach nur „Brust” zu sagen, und sofort hat jeder einen Haufen Bilder vor Augen.
Ist das auch eine Arbeit über den Blick des Zuschauers?
Frédéric Gies: Das Stück entsteht durch eine Erforschung des Körpers. Auf der Bühne begibt sich Alice wirklich in die verschiedenen Haut- und Muskelschichten der Brust hinein und lässt ihre Bewegungen von diesen Schichten ausgehen. Der Zuschauer wird also Zeuge eines Körpers, der sich ständig transformiert und seine Stofflichkeit verändert. Und aus dieser Veränderung der Stofflichkeit entstehen Bilder.
Alice Chauchat: Es ist eine Aktivität, an der der Zuschauer kinästhetisch Teil hat. Auch sein eigener Körper ist an der Produktion dieser Bilder beteiligt. Die Beziehung zwischen Fleisch und Bild ist eine gegenseitige. Ich komme nicht von Nirgendwo, mein Körper hat eine bestimmte Prägung, so dass er, wenn ich mich bewege, Bilder produziert. Aber wir glauben, dass der Körper mehr als nur Stereotypen hervorbringen kann.
Wie verändert sich die choreografische Arbeit, wenn man sie auf einer Körperpraktik aufbaut?
Alice Chauchat: Durch eine Arbeit, die vom Körper ausgeht, verändert sich vor allem der Rezeptionsprozess für den Zuschauer. Anstatt ein Stück zu machen, das man „lesen”, also dekodieren kann, erzeugen wir Situationen, die nur mit den Sinnen erfassbar sind. Daraus ergeben sich Stücke, die man eher „erfühlen” als analysieren kann.
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