Die Nacht, als die Steine Tränen weinten

Neues Tanztheater von Mei Hong Lin am Staatstheater Darmstadt – zugleich europäische Erstaufführung der Oper „Ainadamar“ von Osvaldo Golijov

Darmstadt, 27/11/2007

„Ainadamar“ kommt aus dem Arabischen und bedeutet Quelle der Tränen. Ainadamar heißt ein Brunnen bei Granada, stellvertretend für den Ort, an dem der Dichter Federica Garcia Lorca (1898-1936) von den Falangisten erschossen wurde. Lorca ist der große spanische Dichter der Freiheit, seine (Schreib-)Feder war in den Augen der Faschisten gefährlicher als Waffen. Sein Tod am 19. August 1939 war ein frühzeitiges Signal für den Spanischen Bürgerkrieg, der durch die Unterstützung von Hitler und Mussolini 1939 zugunsten von Franco endete. Viele Menschen verloren im Kampf um die Spanische Republik ihr Leben. Zu denen, die entkommen konnten, gehörte die „proletarische Königin des spanischen Theaters“ Margarita Xirgu (1888-1969), die von ihrer Südamerika-Tournee mit Werken Lorcas nicht mehr nach Spanien zurückkehrte. Sie hatte 1927 in der Uraufführung von Lorcas Stück „Mariana Pineda“ die Hauptrolle der fast 100 Jahre zuvor ermordeten spanischen Revolutionsheldin gespielt; in der Zeit danach hatte sie auch die anderen Frauengestalten von Lorca verkörpert. Eine enge künstlerische Beziehung also, die von der Schauspielerin Margareta Xirgu all die Jahre in lebendiger Erinnerung gehalten wurde. In ihrem Todesjahr 1969 setzt die Oper „Ainadamar“ von Osvaldo Golijov ein, die letztlich ein großes Klagelied ist.

Was ursprünglich wie ein schwebender Traum über Liebe und Freiheit und deren Verlust angelegt war (Uraufführung 2003), wurde in der dramaturgischen Überarbeitung und unter der Regie von Peter Sellars 2005 auch zu einem politischen Stück, das die Unmenschlichkeit diktatorischer Regime anklagt. Komponist Osvaldo Golijov ist beeinflusst von verschiedenen Kulturen, die er – unbeeindruckt von Abgrenzungen musikalischer Genres -, miteinander verwebt. Der Nachkomme osteuropäischer Juden ist in Argentinien aufgewachsen, hat in Jerusalem Klavier und Komposition studiert, und lebt seit 1986 in New York. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit der von kubanischen Rhythmen geprägten Markus-Passion im Bach-Jahr 2000 (Auftrag von Helmut Rilling). „Ainadamar“ erhielt 2005 zwei Grammys: für die beste Opernaufnahme (Sängerin: Dawn Upshaw) und die beste zeitgenössische Komposition.

Nun also die europäische Erstaufführung am Staatstheater in Darmstadt, und zwar als Kombination von Oper und Tanztheater. Die Idee dazu hatte die Darmstädter Tanzdirektorin Mei Hong Lin, die damit ihr drittes Tanzstück zu Lorca auf die Bühne bringt. Auch sie ist geprägt von verschiedenen kulturellen Einflüssen: geboren in Taiwan, erlernte sie zunächst klassischen chinesischen Tanz, bevor sie Klassisches Ballett in Rom studierte, um dann die deutsche Variante des Bühnentanzes bei Pina Bausch an der Folkwangschule in Essen zu studieren. Sie war seit 1997 Ballettleiterin in Dortmund, bevor sie mit dem neuen Intendanten John Dew 2004/05 nach Darmstadt kam, wo ihre Arbeit von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen wird. Für „Ainadamar“ hat Mei Hong Lin auch die Gesamtregie übernommen; eine großartige Leistung schon angesichts der Massen, die auf der Bühne bewegt werden. Neben den Profis kommen noch der Damenchor und die Statisterie des Staatstheaters Darmstadt dazu, die keinesfalls nur am Rande stehen, sondern in das Geschehen eingebunden sind, und zwar auf inhaltlich schlüssige und ästhetisch anspruchsvolle Art und Weise.

Die Bühne (Thomas Gruber) ist geprägt von einem Mosaikboden in der Mitte, der an andalusische Bauwerke erinnert, und zwei in die Tiefe laufenden Schrägen, die zugleich hohen Symbolwert transportieren. Auf der rechten Seite ist es ein kontinuierlich fließender Brunnen, dessen Wasser in einem gemauerten Bett auf den Zuschauerraum zuläuft. Rot angeleuchtet symbolisiert er das Blut, das bei den Hinrichtungen vergossen wird. Auf der linken Seite dominiert eine hohe Mauer, deren Krone begehbar, die aber von unten nicht überwindbar ist; die Assoziation zur Klagemauer in Jerusalem ist absichtsvoll. An der Mauer sind Sitze angebracht, die von den Tanzenden in dynamischen Aktionen kurzzeitig besetzt werden. Am Ende der Mauer befindet sich eine Art Turm, von dem aus der schwarz uniformierte mit der Fuchsmaske, seinen Rufgesang erschallen lässt (Manuel Ardillita), mit dem er zur Auslieferung des „Feindes Spaniens, der Schwuchtel, des Liebchens Russlands“, kurz des Dichters Lorca, aufruft. Es ist wie der Ruf eines Muezzin vom Minarett. Eine Wurzel des „Cante Flamenco jonde“ (tief innerlicher Gesang) ist das Arabische, wie in dieser Oper eindrucksvoll zu erleben ist. Ein Paradoxon zudem: ausgerechnet der Gesang des Verräters an der Freiheit Spaniens ist direkt mit dem Flamenco typisiert. Auch die Schüsse der Hinrichtungen gehen allmählich von deutlich wahrnehmbaren einzelnen Knalllauten über in rhythmisch-dynamisches Klacken und Klatschen des Flamenco-Tanzes.

Das Orchester des Staatstheaters Darmstadt wurde erweitert um Flamenco-Musiker (Michio Flamenco Projekt), insbesondere die Flamenco-Gitarre erhält ihre besinnlichen, aber auch dynamischen Freiräume. Der musikalische Leiter Martin Lukas Meister hat das Orchester zu differenziertem und in der Lautstärke ausgewogenem Spiel geführt. Die drei Sängerinnen können ihre Stimmen mühelos über den Orchestergraben hinweg erklingen lassen. Katrin Gerstenberger übernimmt mit ihrem dunklen Timbre den Part der Margarita Xingu; ihre Interpretation des Klagegesangs ist von überwältigender Schönheit. Lorca wird dem Libretto gemäß von einer Frau gesungen: mit ihrem Mezzosopran überzeugt Sonja Borowski-Tudor. Anfängliche Irritationen beim Publikum über die Differenz von Rolle und Geschlecht sind schnell überwunden. Als Schülerin und Assistentin Nuria lässt Margaret Rose Koenn ihren hellen Sopran erklingen; optisch hervorgehoben ist sie durch ihr grünes Minikleid und die große Brille, die auf die 1960er Jahre verweisen.

In einigen Szenen sind lediglich die drei Protagonisten auf der Bühne, zugleich als Sängerinnen und Tänzer/innen: die Margarita tanzt Paula Santos, Juan-Pablo Lastras den Lorca und Salome Martins die Nuria. Ein zauberhaftes Duett liefern gegen Ende Eran Gisin als schwarzer Engel in roten Lackpumps und Eszter Kozár als junge Revolutionsheldin Mariana Pineda. Der größte Teil der 80-minütigen Vorstellung ist von Gruppenarrangements bestimmt, die von chaotischem Gewusel über Menschentürme nach Art des angehaltenen Standbilds bis zu streng geometrischen Ordnungen reichen. Die Choreografie bedient sich ebenfalls vieler Zitate aus dem eigenen Genre, am augenfälligsten in der Tischszene: hier sind Elemente aus „Der Grüne Tisch“ benannt; das Antikriegsballett, mit dem das Kurt Jooss-Ensemble 1933 von der Folkwang-Bühne in Essen ausgehend durch die USA tourte. Sie kehrten aus politischen Gründen ebenfalls nicht nach Deutschland zurück.

Die von ausgeprägter Rhythmik bestimmte Musik liefert bislang ungekannte Klangteppiche, die immer wieder von ruhigen Phasen und Einzelmotiven unterbrochen werden. Lateinamerikanische Rhythmen wechseln mit spanischem Flamenco, Elemente der jiddischen Folklore alternieren mit Avantgarde-Techniken, arabische Melodien mit Musical-Motiven. Der Gesang erweist seine Reverenz an die europäische Oper, wobei viele Moll-Sequenzen den Klagecharakter verdeutlichen. Die Sängerinnen bewegen sich gemessen, manchmal sind sie so bewegungslos, dass nicht zu erkennen ist, wer eigentlich singt. Der Tanz bringt vor allem Emotionen zum Ausdruck – Ängste, Sehnsüchte und Träume. Der Komponist Osvaldo Golijov war zur europäischen Erstaufführung seiner Oper „Ainadamar“ nach Darmstadt angereist. Er wurde vom Publikum ebenso begeistert gefeiert wie die Regisseurin Mei Hong Lin. Die höchst komplexe Aufführung verlangt ein informiertes und aufgeschlossenes Publikum. Ob Golijov seine US-amerikanischen Erfolge in Europa wiederholen kann, wird die Zukunft zeigen.

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