Die Rebellion trägt Grün und stirbt in Weiss

Mei Hong Lin verabschiedet sich vom Theater Darmstadt mit „Bernarda“

In der Inszenierung des Darmstädter Balletts tyrannisiert nicht irgendeine Bernarda, hier hat Christopher Basile das Sagen: „Luto, Penitencia, Dolore“ kreischt der – nicht nur wegen seiner 1,90 Meter überragende – Darsteller in der Rolle der 60-Jährigen.

Darmstadt, 03/04/2014

„Silencio!“ gellt ihr kalter Schrei durch den Raum. Wenn diese Frau in die Hände klatscht, schrecken die Töchter auf, ducken sich und huschen verängstigt durch den farblosen Raum. Vereinzelte Ausbruchversuche in bodennahen Sprungvariationen formieren sich zu einem gemeinsamen Statement, sie retten sich auf Stühle, verbarrikadieren sich hinter Tischen. Ein kurzer Fußtritt und die Luft dieser beklemmenden Düsternis erstarrt zu Eis. In Bernarda Albas Haus herrscht Totenstille.

In der Inszenierung des Darmstädter Balletts tyrannisiert nicht irgendeine Bernarda, hier hat Christopher Basile das Sagen: „Luto, Penitencia, Dolore“ kreischt der – nicht nur wegen seiner 1.90 Meter überragende – Darsteller in der Rolle der tyrannischen 60-Jährigen. „Trauer“, „Buße“ und „Schmerz“ sind Worte, die ihm die taiwanesische Choreografin Mei Hong Lin am Ende in den Mund legt, denn nach acht Jahren Trauer für den Vater heißt es abermals „Silencio!“. Nun gilt die Trauerperiode der jüngsten Tochter, die im Freitod Zuflucht gefunden hat.

Vor zehn Jahren gab Mei Hong Lin mit dem Tanzstück „Bernarda“ ihren Einstand am Theater Darmstadt, jetzt verabschiedet sie sich mit einer leicht modifizierten Wiederaufnahme des anderthalbstündigen Werks, nach der Vorlage des spanischen Dichters Federico Garcia Lorca. Es hat nichts an Vitalität verloren, im Gegenteil, das Werk scheint gereift und trägt die Handschrift einer großartigen Choreografin, eines fantastischen Ensembles und eines hervorragenden Komponisten.

In seinem Dreiakter „La Casa de Bernarda Alba. Drama de mujeres en los pueblos de España“ („Bernarda Albas Haus. Tragödie von den Frauen in den Dörfern Spaniens“) verhandelt Lorca das Beziehungsgeflecht von drei Generationen während einer achtjährigen Trauerzeit für den verstorbenen Ehemann. Lorca siedelt das Stück, in dem kein einziger Mann auftritt, im ländlichen Andalusien der 1930er Jahre an.

Mit wenigen Elementen verortet die Inszenierung den Stoff in Spanien, leicht historisierende Kostüme der Mutter- und Großmutter, spanische Sprachfetzen und musikalisches Lokalkolorit in einer optisch monochromen Bühnenlandschaft. Die Tänzerinnen, umgeben von überdimensionierten Profilwänden, agieren symbolisch in einem schalldichten Raum. An traditionellen Flamenco angelehnt begleitet ein Soundtrack die erotischen Sehnsüchte und Träume von Liebe und Freiheit der jungen Frauen. Subtil, dennoch expressiv übernehmen vier Musiker der Live-Band, darunter eine Sängerin, die inneren Stimmungen, übertragen sie virtuos in Gesang, Melos und Rhythmus. Allen voran an der spanischen Gitarre, mit Blick vom seitlichen Vorderbühnenrand auf das Geschehen und mit feinem Ohr fürs wohltemperierte Ganze, der Komponist Michio.

Eine Qualität der Choreografin ist das virtuose Spiel mit Ambivalenzen. Das Stampfen der Füße, das Klatschen der Hände, mit dem die Flamenco-Musiker anfeuern, kippen in der Figur der Bernarda ins Gegenteil, sie werden zu Gesten der Erstarrung und Kälte. In einer anderen Szene necken sich drei Männer und eine Frau. Aus dem Zuschauerraum kommend toben sie über die Vorderbühne. Bei ihrem, im doppelten Sinn obszönen (off szene) Spiel weiß der Zuschauer nicht, ob das Geplänkel nicht jeden Augenblick in Gewalt umschlagen kann.

Eine andere Qualität liegt in der Treffsicherheit mit der Lin signifikante Handlungsmomente körpersprachlich auf den Punkt bringt. Dabei benutzt die Choreografin Stilmittel des japanischen Theaters, wie die Verkörperung einer Frauenrolle durch einen männlichen Darsteller (Onnagata). Die Charaktere werden holzschnittartig angelegt: María Josefa, die 80-jährige Großmutter (verkörpert durch Celedonio Indalecio Moreno Fuentes) sieht in ihrem Brautkleid, weiß geschminkt mit roten Bäckchen aus, als sei einem Molière-Stück oder Manga entlaufen. Sie wirft den Kopf in den Nacken, fahrig gleiten die greisen Finger durch das strähnig graue Haar, so, als könne diese falsche Braut mit dem Charme vergangener Tage die Jugend herauf beschwören.

Grotesk und etwas überzeichnet wird die Figur bewusst der Lächerlichkeit preisgegeben, während Bernarda alias Christopher Basile, einer Gouvernante gleich, im Bewusstsein moralischer Überlegenheit Rituale zelebriert, die an der Grenze von Seriosität und Komik, von Selbstkasteiung und Sadismus, darstellerisch eine subtile Gratwanderung bedeuten, die Basile hauchfein mit Ironie würzt.

Zunächst fügen sich die jungen Frauen im heiratsfähigen Alter in diese Kellerhaft, gefüllt mit Stumpfsinn, Beten und Putzen. Gehorsam bis zur Selbstverleugnung werfen sie sich flach auf den Boden. Die Wut über totale Kontrolle und sinnlose Rituale mündet in Selbstgeißel. Erst mit dem Ablegen ihrer schwarzen Kleider beginnt symbolisch die Überwindung der Repressalien – womit neue Konflikte, Rivalitäten und Eifersucht anfangen. Wenn die Jüngste, zugleich eine mutige Rebellin, ein grünes Seidenkleid überstreift und wie ein Schmetterling über die Bühne flattert, keimt Hoffnung auf. Doch statt Freiheit zu bringen, vergiftet das Grün das Klima.

Zurück auf Start wird mit einem großen weißen Tuch die Bühne zugedeckt. Wurde es von den Tänzerinnen zu Beginn des Stückes mal wie ein Bettlaken, mal wie eine Tischdecke bespielt, verfängt sich die wild entschlossene Freiheitskämpfern im unendlichen Weiß – ein gigantisches Schlussbild.

Von der narrativen Ebene über die Bild-, Musik- und Tanzsprache bis zur vielschichtigen Semantik ist „Bernarda“ eine ebenso expressive, wie gespenstisch schöne und in sich stimmige Tanzproduktion, die deutlich macht, dass der Abschied von Mei Hong Lin und ihrem Ensemble ein großer Verlust ist, sowohl für das Theater Darmstadt als auch für die deutsche Tanzszene.
 

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