Stühlerücken auf dem Tanzboden
Das Hessische Staatsballett kommt – die Ballettchefs der Staatstheater im Südwesten wechseln
Uraufführung des neuen Tanzstücks von Mei Hong Lin am Staatstheater Darmstadt
Eine große Hotelhalle, erhellt durch vier kugelige Deckenlampen, möbliert mit vier roten Sesseln, dazu viele Seitentüren und Durchgänge – mehr braucht die Bühne nicht für das neue Tanzstück „Hôtel du nord“ von Mei Hong Lin. Die Darmstädter Choreografin hat sich von einem realen Pariser Hotel dazu inspirieren lassen, interessiert ist sie an den Menschen, die dort ein- und ausgehen.
Das Hotel ist ein symbolischer Raum, in dem einander fremde Menschen mit all ihren unterschiedlichen Erfahrungen, Erwartungen und Sehnsüchten aufeinander treffen. Die große Drehtür in der Bühnenrückseite ist zunächst blockiert, vergeblich versuchen die potentiellen Hotelgäste von außen hereinzukommen. Allmählich regt sich Leben im Foyer: merkwürdige Gestalten huschen hin und her, ein Wispern und Kichern setzt ein, aus den seitlichen Bögen schauen isolierte Hände, Füße oder Köpfe hervor. Die Zuschauer tauchen ein ins Schattenreich der Nacht, die Wände erzählen Geschichten.
Es ist verblüffend mit welch einfachen Mitteln Mei Hong Lin eine unwirkliche Nachtatmosphäre zu zaubern vermag. Und es ist phänomenal mit welcher Präzision die 16 Tänzer und Tänzerinnen zur musikalischen Grundlage agieren. Die Erklärung liegt darin, dass Musik und Tanz gemeinsam entwickelt wurden. Der für Schauspielmusik zuständige Michael Erhard war bei fast jeder Tanzprobe dabei und hat spontan improvisierend die Musik gemeinsam mit dem Tanzensemble weiter entwickelt, und das offenbar mit großem Gespür. Dieser gemeinsame Arbeitsprozess wurde am Staatstheater zum ersten Mal erprobt, doch mit durchschlagendem Erfolg. Zuerst begleitete Erhard nur am Klavier, dann baute er elektronische Effekte ein und für die Realisierung während der Vorstellungen kommen zwei Kollegen dazu: Jens Hunstein an diversen Blas- und Robert Strobel an verschiedenen Percussion-Instrumenten. Es ist eine Mixtur aus verschiedensten Geräuschen, musikalisch-lyrischen und rhythmisch-akzentuierten Teilen. Viel Jazz und Blues, eine Szene mit Tango und Klezmer, auch eine Prise Walzer sind dabei.
Das gesamte Stück besteht aus 11 Szenen, die kolportageartig zusammengesetzt sind. Vieles erinnert vage an Filme, am einschlägigsten wohl in der Gangsterszene, die in einem furiosen Erschießungsgewitter endet. Vorgeführt werden all die Spielarten von Liebe und Gewalt, die sich zwischen Mann und Frau, Mann und Fetischpuppe oder einem Transvestiten abspielen. Das Nicht-miteinander-sprechen-können wird thematisiert, das Verlassen sein und Hintergangen werden, aber auch geheime Begierden und Obsessionen sind dabei. Nachtschwärmer und Paparazzi machen die Nacht unsicher, eine Somnambule tanzt traumverloren, ein alter Mann sitzt beobachtend im Sessel. Letztlich endet alles in einer Pyjama-Wanderung der Einzelgänger, alle haben etwas zum Kuscheln oder Einhüllen dabei. Wenn die Zuwendung nicht von außen kommt, muss man sie sich wohl selbst geben.
Das Bindeglied zwischen den divergenten Szenen und so etwas wie ein heimlicher Regisseur ist ein spinnenartiges, fremdes Wesen; eine tänzerische und darstellerische Glanzleistung von Laia Duran Figols. In vielen Szenen wird ihr geheimnisvolles Tun konterkariert durch einen zierlichen Mann in Schwarz, der im Outfit der Ninja-Kämpfer deren wirbelnd-schnelle Art der Kampfkunst vollführt (Pao-Su Chiang). Publikumsliebling ist Kenta Shibasaki als japanischer Gast, der wirklich alle Klischees eines Japan-Touristen auf amüsante Weise transportiert. Überhaupt ist der Witz, die ironische Brechung ein durchgehendes Stilmittel dieser Inszenierung. Zwar gibt es auch die stillen, ernsten und höchst intensiven Momente, meist die Soloparts, ansprechender und von spontanem Beifall begleitet sind die locker witzigen und ungemein temporeichen Szenen. Wenn etwa ein streitendes Ehepaar aus der Gegenwart zeitgleich mit einem lustvoll kokettierenden Rokoko-Pärchen auf der Bühne agiert. Gesamtfazit: ein hervorragend aufgestelltes Team, eine Tanzkompanie in Bestform, ein absolut sehenswertes Stück.
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