Bleibende Sehmomente
Gelungener Triple Bill beim Ballett Kiel
Premiere mit Choreografien von Nils Christe
„Sacre du Printemps“, 94 Jahre nach der skandalumtosten Uraufführung, hat das Frühlingsopfer nichts an umwerfender Vitalität verloren, bleibt es Prüfstein für Choreograf und Orchester. In Kiel hält sich Nils Christe, ehemals Tänzer im Nederlands Dans Theater und heute frei schaffender Choreograf, selbstredend nicht sklavisch an die dürren Handlungsvorgaben aus der Partitur Igor Strawinskys. Er stellt Gruppen von bis zu sieben Frauen und neun Männern in den Vordergrund, vermischt sie hier und da, insbesondere gegen Ende, löst daraus Soli und Duos. Eine genaue Zuordnung, woraus sich die Kräfte speisen, welches die Antriebsimpulse sind, vermeidet er. Die Menschen sind halt da und tanzen unermüdlich, sehr eng an die Musik angelehnt.
Manchmal zu eng, wenn die Choreografie die Klänge nur kleinklein verdoppelt. Die Tänzer sind neutral gekleidet (Kostüme: Annegien Sneep): Den Frauen verleihen weiße und hellblaue Hemdchen, die in der Mitte des Oberschenkels enden, eine Aura von erotisch aufgeladener Unschuld. Die Männer erscheinen in langen Hosen und mit nackten Oberkörpern, auf denen sich bald der Schweiß abzeichnet, ein schöner Macho-Anblick. Brutalität ist allerdings nicht die Sache von Christe, obwohl er eine kraftvolle, athletisch geprägte Linie pflegt, ähnlich der vom Ballett-Hausherren Mario Schröder. Vermutlich hat er sich deshalb die Kieler Truppe erkoren, seinen Sacre zu präsentieren.
Mit Recht, denn furios, fulminant bügelt das fabelhafte Ensemble alle Schwächen der Choreografie glatt. Selbst bei komplexen, rasend schnellen Gruppenabläufen gibt es kaum je Aussetzer, auch die Männer agieren auf den Punkt präzise. Durch ihre pure Leidenschaft setzen die Tänzer die Bühne in Brand, verdichten physisch das Geschehen zu oft atemberaubender Präsenz: ein sehenswertes Ereignis. Deshalb nenne ich alle Mitwirkenden: Romy Avemarg, Isis Calil de Albuquerque, Claudiu Constantin, Stefanie Fischer, Tina Gaitzsch, José Martinez Grau, Fang-Yi Liu, Preslav Mantchev, Jordan Melville, Bogdan Muresan, Oliver Preiß, Ayumi Sagawa, Tina Slabon, Stefan Späti, Sebastian Wagner, Anne-Marie Warburton, Tenald Zace.
Ein halbhoch gehängter Rundbogen (Bühnenbild: Thomas Rupert), bläulich getönt mit grünen Streifen durchsetzt, schafft weniger eine archaische als vielmehr eine kühle Atmosphäre, die Christes Produktion wesensverwandt ist. Er beginnt mit der Frauengruppe, die bei den Fagotttönen der Introduktion im Zwielicht auf der Bühne liegt. Zu den kantigen Streicherschlägen (Vorboten des Frühlings) versammelt er sie zum Block, der im unregelmäßigen Rhythmus mithüpft, die vor dem Oberkörper geführten Arme in einer Angstgebärde hochreißt vor die Brust. Die Köpfe sind zurückgelehnt, die Hemdchen schieben sich. Mag man da noch glauben, Christe werde Grauen, Schrecken, Ekstase und Hingebung auf die Bühne stemmen, so geht man schlicht fehl. Rücksichtslose Entäußerung findet nicht statt. Effektvoll durchkalkuliert wirkt auf mich Christes Gestaltung, die geschickt den Raum aufteilt.
Gerade nur sexuell angehaucht sind die Duos Mann-Frau am Boden, bei der sie nacheinander mit einem Bein über den Partner streichen. Das lässt mich kalt. Zittern, stumme Schreie wirken wie plakativ eingestreut, ohne durch Vorgehendes oder Nachfolgendes legitimiert zu sein. Lediglich leichte Verstörtheit, nicht elementare Verzweiflung, vermitteln die Soli abwechselnder Personen, die sich zum Ende hin aus der Gruppe lösen, als seien sie das Opfer, und sich wiedereinfinden. Erst im allerletzten Moment entscheidet sich Christe für ein Opfer, eine Frau, die mit dem Finalschlag vor der Gruppe zusammenbricht: kühl kalkulierter, oberflächlicher Effekt. Das Publikum feiert mit rasendem Applaus die Tänzer und Tänzerinnen, Orchester und Dirigent sowie den Choreografen.
Dem „Sacre“ ging ein weiteres, wiederum exzellent getanztes Stück Christes voraus: „Kleines Requiem für eine Polka“ (Henryk Gorecki), gekoppelt mit John Adams’ „Shaking und Trembling“. Christe spielt mit einem langen, drehbaren Gebilde, dem obersten Teil eines Viadukts ähnlich. Darauf hockt zum Start und am Ende eine Frau, ziemlich einsam, wie’s scheint. Bis auf die wirklich schräge Polka, die einem dissonant überdreht in die Beine fährt, ergießt sich ein sämiger Musikstrom ohne Ecken und Kanten, für jede Interpretation offen.
Für das Orchester scheinen beim „Sacre“ keine instrumentaltechnischen Probleme zu bestehen. Die Musiker bewältigen bravourös die anspruchsvolle Partitur, in der Igor Strawinsky höchste kompositorische Raffinesse zur Darstellung archaischer Rituale nutzt. Damit markiert einen unnachahmlichen Fixpunkt der Musikgeschichte. Schnelle, energische Tempi bevorzugt Dirigent Johannes Willig. Schon in der Introduktion nimmt er eine rasche Gangart, wodurch der Höreindruck verengt wird, das Gefühl der Weite nicht entsteht. Beim Auftritt des Weisen entwickelt sich keine mystische Stimmung. Die fetzigen Stellen wie „Vorboten des Frühlings“ oder „Opfertanz“ lässt er mit barbarischer Wucht spielen, manchmal zu kompakt, um noch die Durchhörbarkeit der komplexen Instrumentierung und Überlagerung verschiedener Motive zu erreichen. Aber dadurch entwickelt sich auch ein unwiderstehlicher Sog zum Finale hin.
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